Der Geisterfahrer
Zigarrenscheren, Tabakbeutel, Schüsseln, Gläser, Barometer, Fernrohre, Körbe, Kunstgussfiguren, Haussegen und Glasbilder, Heilmittel und Schleckereien, vom Magenbrot bis zum türkischen Honig, und Karusselle drehten sich, und Leierkastenmänner sangen Balladen von Schiffsuntergängen und Giftmörderinnen, und in der Laterna
Magica konnte man Bilder ansehen von der Schlacht der Sioux-Indianer gegen General Custer und vom Eisenbahnunglück in Münchenstein, Wahrsagerinnen priesen sich an, in einem Zelt stellte sich die dicke Bertha zur Schau, ein Anblick, den sich mein Urgroßvater nicht entgehen ließ, wie er überhaupt eher den Schaubuden nachging als den seriösen Käufen, er brauchte ja auch nichts Bestimmtes dieses Jahr, Schuhe hatte er soeben von seinem frisch verstorbenen Onkel erben können, sie waren noch wie neu, wenn auch um ein Weniges zu knapp, aber die würden sich schon noch ausweiten, gerade nach einem Marsch wie heute, bei dem die Füße etwas anschwollen und das Leder auseinandertrieben. Mit großem Vergnügen schaute er in einem Zelt einem Varietéprogramm zu, in welchem Zauberer und Bodenakrobaten auftraten sowie ein Artist, dessen Kunst darin bestand, dass er immer aufs Neue unheimlich lange Fürze lassen konnte, was das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss.
An den Schießstand ging er auch und gewann mit zwei Schuss eine Nelke aus Seide und Blumendraht, die er sich ins Knopfloch seines Sonntagsanzugs steckte und seiner Frau nach Hause zu bringen gedachte, ebenso wie einen französischen Nagellack, den er bei einer elsässischen Parfumverkäuferin erstand. Für meine zwei- oder dreijährige Großmutter kaufte er ein Päcklein sogenannter Messmocken, eine spezielle Süßigkeit, eigens zur Messe hergestellt, die es heute noch gibt, und für sich selbst eine lombardische Bartwichse, welche er von einem Händler hatte, dem der Schnurrbart links und rechts weit über das Gesicht hinausragte.
So verging der Nachmittag wie im Flug, und mein Urgroßvater, der entschlossen war, in derselben Nacht noch nach Hause zurückzukehren, in einer Zeit, in welcher es zwar noch keine Taschenlampen gab und in den Dörfern auch noch keine Straßenbeleuchtung, dafür aber am Datum jenes Messebesuches den Vollmond, mein Urgroßvater also gedachte sich vor seiner Rückwanderung noch einmal zu stärken und betrat, nachdem er die mittlere Rheinbrücke überquert hatte, eine Pinte in Kleinbasel, dem Teil der Stadt, der als weniger edel galt, eine Eigenschaft, die sich, wie mein Urgroßvater wusste, auch in etwas weniger hohen Preisen niederschlug. In der Pinte herrschte ein großes Gedränge, und mit einiger Mühe fand mein Urgroßvater einen Stuhl an einem größeren Tisch, um den sich schon etliche Gäste drückten und Bier tranken, Stumpen rauchten oder einfache Gerichte verzehrten. Über dem Schanktisch hing eine Speisekarte, das heißt, es war eigentlich eine Speisetafel, auf der in weißen Buchstaben auf schwarzem Grund Namen und Preise der Gerichte angeschrieben waren.
Mein Urgroßvater war ziemlich kurzsichtig und nahm seine Brille aus der Westentasche, um sich einen Überblick über das Angebot zu verschaffen. Nun war aber auch diese Brille ein Erbstück seines frisch verstorbenen Onkels. Seit ihm vor ein paar Jahren seine eigene zerbrochen war – er hatte sie auf die Ofenbank gelegt und überall gesucht, bis er sich schließlich ratlos und verärgert auf ebendiese Ofenbank gesetzt hatte –, seit ihm das passiert war, war er aus einer Art Trotz heraus nicht mehr zum Optiker Stärkle nach Säckingen gegangen, den er der Halsabschneiderei
bezichtigte, sondern ging jedes Mal, wenn ein Brillenträger im Dorf gestorben war, ins Trauerhaus und fragte, ob die Brille des Toten noch gebraucht werde. So kam er zu seinen Brillen, die zwar meistens nicht genau auf seine Kurzsichtigkeit passten, aber er pflegte zu sagen, die Augen gewöhnten sich schon noch daran, und erst wenn es klar wurde, dass dies nicht der Fall war, sagte er, die Gläser wollten sich einfach nicht an die Augen gewöhnen, und wartete auf den nächsten Herzschlag eines Kurzsichtigen. Die jetzige Brille hatte er, wie die Schuhe auch, seinem jüngst verstorbenen Onkel abgenommen, und wie die Schuhe, so passte ihm auch die Brille nicht eigentlich, und so sehr er seinen Blick auf die weiße Schrift über dem Schanktisch zu fixieren suchte, die Buchstaben zeigten sich ihm nicht klar, vergrößert und unmissverständlich, sondern hatten ein
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