Der Geisterfahrer
Hügel hin und zurück höchstens eine Stunde brauchte, plus zwanzig Minuten Autofahrt nach Andermatt, wo er sich in anderthalb Stunden am Bahnhof einfinden sollte, so blieben ihm immer noch zehn Minuten Spielraum. Er überquerte die Passstraße und nahm den Pfad unter die Füße, auf den ihn der gelbe Wanderwegweiser leitete. Sollte er in vierzig Minuten nicht oben sein, nahm er sich vor umzukehren. Da er während seiner Tätigkeit öfters Wege und Straßen verlassen musste, war er immer mit starkem Schuhwerk ausgerüstet. Zwar sah das Wetter nicht einladend aus, ziemlich bewölkt mit Nebelfetzen, die an den Berghalden hingen, es waren sogar, wie er im Autoradio gehört hatte, Niederschläge vorausgesagt, aber er hatte seine schwarze Allwetterlederjacke an, und es ging ja nur um einen kurzen Spaziergang. Erst nach einer Weile merkte er, dass er nicht einmal sein Aktenköfferchen mit den Unterlagen ins Auto gelegt hatte, sondern es immer noch in der rechten Hand trug, er war also gewissermaßen dienstlich unterwegs.
Im Gehen überlegte er, was für ein Baumberger hier zu einem Denkmal gekommen sein könnte. Vielleicht war er einer der Flieger der ersten Stunde gewesen, ein Alpenüberquerer wie Blériot oder Mittelholzer, aber eigentlich kam ihm keine sichere Geschichte dazu in den Sinn. Und von einem Flieger Baumberger hätte er, da er ebenfalls so hieß, doch einmal etwas gehört. War er, falls es ihn denn
gegeben hatte, abgestürzt, oder war er der Erste, dem ein bestimmter Flug gelungen war, vielleicht eine Längsüberquerung der Alpen, oder wie hatte er es zu diesem Denkmal gebracht? Er spähte nach oben, es war noch nicht in Sicht.
Er hatte die Talstation einer militärischen Seilbahn passiert, die Teil der Gotthardbefestigung war und deren Drahtkabel mit den gelben Schutzkugeln in den Wolken auf der andern Seite der Passhöhe verschwanden. Er wusste nicht, ob die Anlage dort oben, die wohl der Fliegerbeobachtung diente, noch gebraucht wurde oder ob sie, wie der größte Teil der Zentralschweizer Anlagen, schon stillgelegt war, als Antwort auf die immer höheren Unterhaltskosten und das immer diffusere Bedrohungsbild. Tatsächlich musste sich auch Baumberger eingestehen, dass er nicht zu sagen vermöchte, weshalb einer fremden Macht mehr an der Beherrschung des Oberalppasses gelegen sein sollte als an der Einnahme von Zürich, Bern oder Genf.
Er kam gut vorwärts und erreichte einen kleinen Sattel. Ein Wegweiser pries ihm die Orte Rueras und Sedrun an. Sein Ziel aber war der Baumberger-Hügel, der den Namen Piz Calmot trug und zu dem ihn der Pfeil nach rechts schickte.
Der Weg stieg jetzt stärker an, es war eine Fahrstraße, auf beiden Seiten des Hügels gab es Skilifte, deren Bergstationen wohl mit einem Geländefahrzeug erreichbar sein mussten. Baumberger war durch seinen zügigen Schritt ins Schwitzen gekommen, zog seine Jacke aus und trug sie am Zeigefinger über der linken Schulter. Mit einer gewissen Befriedigung bemerkte er, dass sich eine Wolkenbank zwischen
ihn und die Passhöhe geschoben hatte, aus welcher die Motorengeräusche nur undeutlich heraufdrangen, sodass er das Gefühl hatte, weitab von allem zu sein.
Die ständig steigenden Kosten und die ständig sinkenden Mittel, das war anfangs nicht viel mehr als ein Gerücht gewesen in der Verwaltung, ein Gerücht, das sich mit Sätzen wie »Wenn das so weitergeht« tarnte. Baumberger hatte seine Stelle vor über 20 Jahren angetreten, das war eine Zeit, in welcher die Armee noch in keiner Weise infrage gestellt war und die Reserven der Kriegskasse unerschöpflich schienen. Doch dann kam die Volksabstimmung über die unverschämte Frage, ob man die Armee abschaffen solle, und diese Frage war von 36 % der Bevölkerung mit JA beantwortet worden. Baumberger erinnerte sich noch gut, wie sie sich alle am andern Morgen fast verlegen gegrüßt hatten. Dabei war das Resultat ein klares NEIN gewesen, 64% sind in dieser Demokratie eine schon fast erdrückende Mehrheit. Dennoch hatten die Militärabschaffer ihre Niederlage gefeiert wie einen Sieg. Seither gab es in der Diskussion um die Armee keine Tabus mehr, seither durfte man sich öffentlich Gedanken darüber machen, ob man ein Heer nicht besser bei einer internationalen Sicherheitsfirma leasen sollte, ohne dass man deswegen als ein Verrückter oder ein Landesverräter angesehen wurde, seither machte man mit den Österreichern zusammen Manöver, die Flieger trainierten in Norwegen, wo sie nicht nach 5
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