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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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auskannte, dort, wo er bleiben wollte.
    Er begann in einem Holunderbusch ein kleines Nest zu bauen, sammelte rastlos dürre Grashalme und Waldmeisterstängel und formte sie zu einer Schale, in die er sich dann setzte und sang, so laut es ging. Als er trotz seiner Lockrufe allein blieb, begann er im selben Busch ein zweites Nest zu bauen, ebenso rasch wie das erste, und ebenso vorläufig. Zwei Tage lang sang er abwechselnd aus dem einen und dem andern Nest, flog einmal sogar zuoberst auf die Birke, um sicher gehört zu werden, und dann bekam er frühmorgens eine Antwort, von irgendwoher zwischen den Dächern, er flatterte von einem Nest zum andern,
ständig rufend, und auf einmal stand auf einem Zweig zwischen den Nestern ein Weibchen und blickte ihn an.
    Als es wenig später zur Birke flog, flog ihm der Vogel nach, setzte sich auf den Ast über dem Weibchen, sang, so schön er konnte, flog wieder zum Holunder mit seinen zwei Nestern, flog dann zurück zur Birke, doch da war das Weibchen verschwunden. Beharrlich sang der Vogel weiter, und am Abend fand sich das Weibchen wieder ein, setzte sich zwischen die zwei Nester und wartete. Der Vogel richtete sich hoch auf und schmetterte seine wechselvollsten Melodien, erhob sich in die Luft, blieb flatternd über dem einen Nest stehen, hängte sich dann mit den Füßen kopfunter an einen Zweig und blickte das Weibchen an.
    Als der Morgen dämmerte, stellte sich das Weibchen auf den Nestrand, duckte sich, schwirrte mit seinen Flügeln und pfiff leise. Der Vogel stürzte sich auf das Weibchen und ließ seinem Drang freien Lauf, und als es sich etwas später wieder bereit machte für ihn, tat er nochmals dasselbe, und danach noch einmal, bis sich das Weibchen entfernte und die Umgebung absuchte, immer gefolgt vom Vogel. Schließlich zog es enge Kreise über einer Thujahecke, schlüpfte hinein, ließ sich auf einer Astgabel nieder und sprang auf deren Zweigen hin und her. Dann flog es auf den Boden des Gartens und kehrte mit einem dünnen Stängel wieder zurück, den es auf die Astgabel legte. Da wusste der Vogel, dass das der Brutplatz war, und begann seinem Weibchen beim Bau des Nestes zu helfen.
    Ein Tag verging, eine Nacht verging, noch ein Tag verging, und noch eine Nacht, ein weiterer Tag, eine weitere
Nacht, und das Nest war fertig. Weich und zierlich hing es in der Astgabel, seine äußersten Halme waren mit den Ästen verwoben. Bei Tagesanbruch setzte sich das Weibchen hinein, und als es wieder wegflog, lag ein Ei im Nest. Jeden Morgen kam nun ein neues Ei dazu, bis keines mehr Platz hatte.
    Ab jetzt saß fast immer eines der beiden Tiere auf dem Nest, während das andere in der Umgebung von Baum zu Baum flog und Insekten, Käfer und Raupen aufpickte oder sich Fliegen und Falter im Flug schnappte. Wenn das Weibchen wegflog und dem Vogel das Nest überließ, wendete er die Eier mit dem Schnabel, bevor er sich darauf setzte. Er mochte nicht so lange auf dem Gelege sitzen wie das Weibchen und machte sich manchmal bald wieder davon, gab dem Weibchen mit seinem Gesang zu verstehen, dass er das Nest verlassen hatte, aber dieses ließ sich Zeit mit der Rückkehr. Einmal, als es zurückkam, saß eine Elster auf der Thujahecke. Das Weibchen schimpfte sie mit lautem Gezeter aus, wenig später gesellte sich auch der Vogel dazu und stimmte mit ein, fächerte seine Schwanzfedern, schlug mit den Flügeln, hüpfte sogar auf die Elster zu, bis sich diese unwillig keckernd von der Hecke erhob und zur Buche hinüber flog. Sie wäre wohl ohnehin zu groß gewesen, um an das gut versteckte Nest im engen Gezweig heranzukommen. Der Vogel und sein Weibchen, aufs Höchste erregt, schlüpften beide zum Nest, in dem keines der Eier fehlte.
     
    »Heute hatte ich das Gefühl, es habe Aufregung gegeben bei den Vögeln«, sagte die Frau am Abend zu ihrem Mann,
»aber ich weiß nicht, was es war. Ich habe bloß noch eine Elster wegfliegen sehen.«
    »Hoffentlich ist den Mönchsgrasmücken nichts passiert«, sagte der Mann.
     
    Den Mönchsgrasmücken war nichts passiert, und ihre melodischen Rufe waren weiterhin zu hören. Das war das einzige Mal, dass das Gelege während der Brutzeit in Gefahr war, weder Marder noch Mäuse fanden den Weg den Stamm hinauf.
    Die Jungvögel brachen, als ihre Zeit gekommen war, einer nach dem andern die Schale mit ihrem Eizahn auf und lagen mit geschlossenen Augen als federlose Klumpen mit zwei stumpfen Ärmchen, die einmal die Flügel werden sollten, über- und unter-

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