Der Geisterfahrer
dem Holunderbusch, flatterte auf den Birkenwipfel, setzte sich dort noch einmal auf den obersten Ast, stieß dann ab und schwang sich so hoch hinauf, wie er den ganzen Sommer nie gewesen war, und bald flog er ganz allein weit über den vielen Lichtern, die aus den Behausungen der Menschen drangen. Er kannte den Weg nicht, aber die Sterne kannten ihn, und er verstand die Sprache der Sterne, und die Erde tief unter ihm kannte ihn, und er verstand die Sprache der Erde.
Am andern Morgen sah er unter sich einen See, schwebte zu dessen Ufer hinunter und ließ sich in einem Gehölz nieder, das ins Wasser hineinragte. Dort ruhte er
sich den ganzen Tag aus, vergaß aber nicht, einige Male auf Beeren- und Insektensuche zu gehen. In der nächsten Nacht und in den Nächten, die folgten, setzte er seine Reise auf dem unbekannten und doch bekannten Weg fort, seine Reise, die ihn nun in immer wärmere Gegenden brachte, er überflog Gebirge, Ebenen und Küsten, und die Tage brachte er in Flusstälern, Auenwäldern, Friedhöfen und Zypressenhainen zu, er brauchte die Tage nicht zu zählen, konnte es auch nicht, aber nachdem er eine immense Wasserfläche überflogen hatte, waren seine Kraft- und Fettvorräte aufgezehrt, und der Vogel wusste, dass er angekommen war.
Dass er in Nordafrika war, wusste er nicht, er wusste nur, dass er in der Parkanlage der großen Stadt und den vielen Olivenbäumen auf den Hügeln dahinter genügend Nahrung finden würde, um die Zeit bis zu seinem Heimflug zu überstehen. Und so erholte er sich von seiner langen Reise, suchte alles, was grün war, nach Beeren, Käfern und Larven ab, kam langsam wieder zu Kräften, putzte sein Gefieder ausgiebig, wenn er auf dem Rand des großen Springbrunnens saß, um zu trinken, ließ die milde Winterwärme in seinen kleinen Körper einströmen, entkam den Angriffen von Sperbern, Mauswieseln und streunenden Katern, begann allmählich wieder über den Hunger hinaus zu fressen, wurde dadurch fetter, mauserte sich erneut, bis seine Flügeldecken frisch waren und er sich gerüstet fühlte für den Heimflug.
Er wusste, wann die Zeit dafür gekommen war. In der Abenddämmerung erhob er sich von der höchsten Palme des Parks und vertraute sich der Führung der Sterne und
der Erde an. Wieder überflog er die immense Wasserfläche, wieder zog er nachts über Küsten, Ebenen und Gebirge, wieder rastete er tagsüber in Zypressenhainen, Friedhöfen, Auenwäldern und Flusstälern, und wieder suchte er den Brutplatz, der ihm vom letzten Mal her vertraut war.
Als er eines Morgens ermüdet im Gehölz des Sees niederging, wusste er, dass dies seine letzte Rast vor der Ankunft sein würde. Den Waldkauz, der dort mit seinem scharfen Schnabel auf ihn lauerte, sah er nicht.
Die Frau trat auf den Balkon zu ihrem Mann, der schon länger dort stand, besorgt, wie ihr schien.
»So, morgen heiratet also unser Sohn«, sagte sie und legte den Arm um ihn, »freust du dich denn nicht?«
Das Denkmal
D er Kaffee war bezahlt.
Der ältere Herr mit dem Aktenköfferchen und dem grauen Schnurrbart, der ihn getrunken hatte, stand vor dem Restaurant auf der Passhöhe und verspürte keine Lust, in sein Auto zu steigen, es blieb ihm noch weit über eine Stunde bis zu seiner nächsten Verabredung. Als Schadenexperte für die Armee hatte er zu beurteilen, ob gesprungene Fensterscheiben von Überschallknallen herrührten oder nicht oder ob die Entschädigungsforderung eines Bauern wegen Panzerfahrten durch seine Äcker anzuerkennen waren, und in Andermatt, wo er sich jetzt hinbegeben sollte, ging es um einen Erdrutsch, der angeblich durch ein verirrtes Artilleriefeuer ausgelöst worden sein sollte, eine größere Sache mit mehreren Beteiligten, da achtete er auf pünktliches Erscheinen, weder zu spät noch zu früh.
Sein Blick traf auf eine Tafel mit einer Wanderkarte am Rand des Parkplatzes. In der Hoffnung, einen Tipp für einen kurzen Spaziergang zu finden, trat er zu ihr hin, suchte darauf die nähere Umgebung ab und stutzte. Baumberger-Denkmal, las er, Rundweg, 1 h 15 min. Baumberger war sein eigener Name, Rudolf Baumberger, und noch nie hatte er von einem solchen Denkmal gehört. Dieses befand sich offenbar auf dem Berghügel oberhalb der Passhöhe,
und sofort wusste er, dass er da hinwollte. Durch die Zeitangabe fühlte er sich herausgefordert; er merkte sich die Höhenangaben, und während er einem Seniorenbus auswich, der in die Parkfläche einbog, rechnete er für sich aus, dass er für den
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