Der Geisterfahrer
und nebeneinander. Aber wenn der Vogel und sein Weibchen nun zum Nest kamen, reckten sich alle fünf Kleinen empor und sperrten die Schnäbel weit auf, sodass ihre blutroten Rachen zu sehen waren. Diese Rachen, das wusste der Vogel und das wusste sein Weibchen, diese Rachen galt es zu stopfen, und für sie beide begann jetzt eine strenge Zeit. Die Mücken, Fliegen, Räupchen, Blattläuse, Spinnen und Asseln, die sie bisher für sich selbst erbeutet hatten, brachten sie nun ins Nest und steckten sie ihren zitternden und fiependen Jungen in die offenen Schnäbel, sie kamen auch immer öfter mit Beeren zurück, die sie den Kleinen verabreichten. Wenn diese sie nicht hinunterwürgen konnten, nahmen sie sie wieder heraus und verschluckten sie selber. Nachts setzte sich entweder der Vogel oder sein Weibchen auf die Jungen und gab ihnen warm.
Schon bald wuchs den nackten Kleinen ein Federflaum, schon bald öffneten sie ihre Augen, schon bald hüpften sie aus dem Nest, und schon bald fiel eines hinunter und wurde von einer Katze aufgefressen. Die andern wurden dicker und saßen nun tagsüber tatenlos und ängstlich auf den Zweigen neben dem Nest, in das sie am Abend wieder zurückkehrten. Sie lernten fliegen, aber immer noch suchten die Eltern von morgens früh bis abends spät die Umgebung nach Essbarem ab und verfütterten es ihren nimmersatten Jungen. Dabei sangen sie fast ununterbrochen, so wussten die Jungen immer, wo sie gerade waren. Schließlich begannen sich diese zu streiten, rupften sich gegenseitig am Gefieder und pickten sich in den Hintern, bis sie nicht mehr in der Geborgenheit des Nestes zusammen blieben. Eines fiel beim ersten Versuch, vom Rand des kleinen Springbrunnenbeckens zu trinken, ins Wasser und ertrank.
»Heute habe ich einen toten jungen Vogel aus dem Becken gezogen«, sagte die Frau zum Mann.
»Was für einen?«, fragte der Mann.
»Ich weiß es nicht«, sagte die Frau, »ich hab ihn gleich in eine Plastiktüte gesteckt und in den Abfallsack geworfen.«
»Vielleicht ein Spatz«, sagte der Mann.
»Kann schon sein«, sagte die Frau.
Die Jungen zogen nun weitere Kreise, wurden aber von den Eltern noch nicht aus den Augen gelassen. Oft führten diese sie zu einem Ort, wo reichlich Futter vorhanden
war. Der Kirschbaum etwa war ein solches Ziel, an dem sich die ganze Vogelfamilie gemeinsam erlabte. Er wurde auch von Amseln, Finken und Meisen aufgesucht, sodass an manchen Tagen der Eindruck entstand, der Baum zwitschere.
»Viele Kirschen sind angepickt dieses Jahr«, sagte die Frau, als ihr Mann seine Ernte auf den Tisch schüttete.
»Mich nimmt wunder, wie viele Vögel wir damit ernähren«, sagte der Mann.
Er hatte weder Zeit noch Geduld, tagelang den Baum und dessen Gäste zu beobachten, sonst hätte er die Mönchsgrasmücken bestimmt einmal gesehen.
Die Familie löste sich nun langsam auf, die Jungvögel tauschten ihr Nestlingsgefieder in ihr erstes richtiges Federkleid, und ihre ersten kleinen Gesänge erklangen. Auch der Vogel und das Weibchen mauserten, und langsam wuchs ihnen ihr Herbstkleid. Alle wussten sie, dass sie soviel wie möglich fressen mussten, mehr als ihnen der reine Hunger befahl, und zu der reichen Ernte an Insekten kam eine ebenso reiche Ernte an Beeren, die sich im Efeu, im Holunder, an Brombeerstauden und anderen Sträuchern fanden.
Der Vogel sorgte jetzt nur noch für sich selbst. Das Weibchen war ihm gleichgültig geworden, das Brutnest suchte er kaum mehr auf, und wenn, dann fand er sich dort allein. Ab und zu setzte er sich hinein, um zu schlafen, machte dann seinen Körper schwer, bis die Beine in ihm versanken, und steckte den Kopf unter einen Flügel.
Seine Jungen sah er nur noch gelegentlich, aber er hatte nichts mehr mit ihnen zu tun. Einmal war er mit einem von ihnen wegen einer Brombeere, auf die sie es zur selben Zeit abgesehen hatten, in Streit geraten. Er hatte dann sein Junges wiedererkannt, hatte ihm aber die Beere nicht überlassen.
Die Tage wurden kürzer, und die Gesänge des Vogels auch. Er wurde jetzt unruhiger, denn er wusste, dass es nicht mehr lang ging bis zur Abreise.
»Ich wüsste gerne, wo unsere Mönchsgrasmücke den Winter verbringt«, sagte der Mann zu seiner Frau.
»Vielleicht in Tunesien«, sagte die Frau.
»Würdest du Tunesien finden, wenn du dort überwintern müsstest?«
»Ohne dich kaum«, sagte die Frau und lachte.
In einer klaren Nacht wusste der Vogel, dass er aufbrechen musste. Er erhob sich aus
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