Der Geisterfahrer
Minuten schon an der Landesgrenze umkehren mussten, und russische Kadetten marschierten mit Schweizer Infanteristen im Gedenken an General Suworow über den Kinzigpass, und vor allem
wurde seither das Budget fast jedes Jahr gekürzt. Letzthin hatte man ihm doch tatsächlich nahegelegt, bei der Anerkennung von Schadenfällen strengere Maßstäbe anzulegen und die Klagenden öfters auf den Prozessweg zu verweisen, den sie in der Regel wegen des Aufwandes scheuten, gerade wenn es um nicht allzu bedeutende Beträge ging. Und wieder gingen Gerüchte um, sie kleideten sich in den Satz »Man denkt jetzt daran«, und dann folgte z. B. die Vermutung, man werde den ganzen Versicherungsbereich auslagern und privatisieren.
Rohre ragten aus dem Boden, einbetonierte, oben verschlossene Rohre, und Baumberger wusste nicht, gehörten sie zu einer militärischen oder sportlichen Einrichtung, auch einen Metallkasten, der unvermutet hinter einem Alpenrosenhügel stand, konnte er nicht zuordnen. Die Kehren der Fahrstraße waren ihm zu lang, und er nahm das erste Abkürzungsfußweglein, das steil zur nächsten Wegschlaufe hinaufführte. Am Horizont war nun die Bergstation eines Skilifts zu sehen, aber ein Denkmal konnte er noch nicht erkennen.
Er hatte das Gefühl, er sei nicht schlecht unterwegs. 30 Minuten Marschzeit, sagte ihm seine Armbanduhr, und er war gut gestiegen, sodass er in 10 Minuten auf dem Kulm sein müsste. Als er in der nächsten Kurve nach oben schaute, sah er nur noch Wolken, ein grauweißes, schleierndes Gewebe, das die Sicht auf ein paar wenige Meter einschränkte. Aber der Fußpfad, der von der Kurve gerade den Abhang hinaufging, musste die nächste Abkürzung sein, da gab es keinen Zweifel. Also stieg er auf diesem weiter bergan. Solange es aufwärts ging, war er ohnehin
auf dem richtigen Weg, und sonst konnte er ja wieder zurück. Bevor die 40 Minuten um waren, die er sich gesetzt hatte, wollte er jedenfalls nicht umkehren.
Von weither war eine helle Glocke zu hören, und er fragte sich, wohin sie gehören mochte. Ihr Geläute traf ihn eigentümlich stark, bis er merkte, dass es ihn an die Kapelle erinnerte, in der er geheiratet hatte. Seine Frau war vor einigen Jahren an einem viel zu spät diagnostizierten Krebs gestorben, und er hätte nie gedacht, dass er sie derart vermissen würde, es schien ihm sogar, er habe sich erst nach ihrem Tod in sie verliebt. Ihre einzige Tochter lebte in Kanada, war dort mit einem Piloten verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Seit das Telefonieren so billig geworden war, rief Baumberger sie jede Woche einmal an, meistens am Sonntag. Es schmerzte ihn, dass sie so weit weg war, sein Schwiegersohn war ihm nicht besonders sympathisch, und insgeheim hoffte er, seine Tochter würde sich früher oder später scheiden lassen und käme mit den Enkelkindern in die Schweiz zurück, spätestens bei seiner Pensionierung.
Er hatte auf der Abkürzung eine weitere Kurve der Fahrstraße erreicht und suchte den nächsten Pfad, um ihn mit federndem Schritt anzugehen. Es lohnte sich, dass er fast jeden Abend eine halbe Stunde auf seinem Hometrainer zubrachte. Das Gerät stand vor dem Fernsehapparat, und meistens schaute er sich während des Tretens die Tagesschau an. Der einzige Nachteil dabei war, dass er sich keine Notizen mehr machen konnte. Seit dem Tod seiner Frau konnte er sich nichts mehr merken, was in den Nachrichten gesagt wurde, er starrte gewöhnlich nur auf
die Bilder, die unseligerweise jede Meldung begleiteten. Wenn von Verhandlungen berichtet wurde, musterte er die Kleidung und die Frisuren der Beteiligten, und wenn er sich vergegenwärtigen wollte, worum es in den Verhandlungen eigentlich ging, war der Beitrag schon vorbei. Es fehlten ihm die Gespräche, es wurde ihm klar, dass eine Neuigkeit bei ihm erst zu einer Neuigkeit geworden war, wenn er sie seiner Frau erzählt oder sie mit ihr besprochen hatte. Deshalb hatte er ein Notizheft zum Sessel vor dem Fernsehapparat gelegt, um sich Stichworte zu notieren, die er nach der Tagesschau nochmals laut in den leeren Wohnraum sprach, Ärzte kritisieren das neue Tarifsystem, Arbeitslosenzahlen leicht gestiegen, neues Selbstmordattentat in Israel, Militärhelikopter gegen Felswand geprallt, zwei Schwerverletzte. Sogar eine solche Nachricht musste er sich aufschreiben, damit er am nächsten Morgen nicht überrascht war, wenn seine Kollegen von der Leben-Abteilung davon sprachen. War er aber am Treten, unterbrach er seinen Rhythmus nicht
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