Der Gejagte
verstehen, was Abu Dun meinte. Es war unmöglich. Niemand konnte
sie hier aufgespürt haben. Auch wenn alle Vampyre der Welt gemeinsam Jagd auf sie machten, sie würden sie nie an diesem Ort
vermuten! Für den in einer schon fast vergessenen Vergangenheit
stecken gebliebenen Ritterorden symbolisierten Abu Dun und er alles, was diese Männer fürchteten, hassten und verachteten. Malta war
der letzte Ort, an dem man einen Vampyr vermuten würde. Aus keinem anderen Grund waren sie dorthin gekommen.
»Wenn du Recht hast, warum lebe ich dann noch?«, murmelte er,
nur, um seinem Gefühl von Hilflosigkeit Ausdruck zu verleihen, das
sich wie lähmendes Gift in ihm ausbreitete. Ein Teil von ihm weigerte sich immer noch, es zu glauben.
»Vielleicht habe ich ihn gestört«, antwortete Abu Dun. »Vielleicht
hatte er auch gar nicht den Auftrag, dich zu töten. Ich schlage vor,
wir suchen ihn und bitten ihn in aller Höflichkeit, uns diese Frage zu
beantworten.«
Andrej sah zum Fort zurück. Das offen stehende Tor erschien ihm
plötzlich gar nicht mehr so harmlos. Vielleicht gab es für die Abwesenheit des Wächters eine völlig andere, schlimmere Erklärung als
die, die ihm gerade eingefallen war.
»Das Tor im Ordenshaus stand offen«, fuhr er fort. »Und der
Wächter war nicht auf seinem Posten.«
»Deine Brüder werden allmählich nachlässig.«
Andrej blieb ernst. »Du hast ihn also nicht ausgeschaltet?«
Abu Dun schüttelte heftig den Kopf und sah ihn mit einem gekränkten Ausdruck an. »Würde ich so etwas tun?«
Andrej ging nicht auf den scherzhaften Ton des Nubiers ein, sondern überlegte angestrengt. Hinter seiner Stirn wirbelten die Gedanken nur so durcheinander. Wenn es überhaupt etwas Vernünftiges
gab, was sie in diesem Moment tun konnten, dann war es wohl, auf
der Stelle kehrtzumachen und die Insel zu verlassen, so schnell sie
konnten. Er hatte immer gewusst, dass ihr Versteckspiel nicht ewig
gut gehen konnte. Irgendwann mussten ihn die anderen aufspüren,
aber sie hätten sich wahrlich keinen schlechteren Zeitpunkt dafür
aussuchen können. Schweren Herzens kam er zu einem Entschluss.
»Geh zurück zu Julia«, sagte er. »Richte ihr aus, dass ich den Jungen suche und zu euch komme, so bald ich kann. Und bereite alles
für eine schnelle Flucht vor. Am besten versuchst du, ein Boot zu
stehlen.«
Abu Dun rührte sich nicht. »Du willst allein dort hinein?«, fragte er.
»Du weißt, dass er dort ist.«
»Ich habe nicht vor, den Helden zu spielen«, antwortete Andrej
unwillig. »Ich suche Pedro und komme zu euch, noch ehe die Sonne
aufgeht.«
»Du wirst tot sein, noch ehe die Sonne aufgeht, und wir auch«, sagte Abu Dun grimmig. »Du hast doch seine Kraft gespürt, oder etwa
nicht? Ich jedenfalls habe es. Und sie hat mir eine Höllenangst eingejagt.«
Andrej schwieg. Natürlich hatte Abu Dun Recht. Wenn es sich tatsächlich um denselben Vampyr handelte, dessen Präsenz sie schon
im Hafen von Konstantinopel gespürt hatten, dann war er ihm nicht
gewachsen. Andrej wusste, wie stark er selber war, doch er war sich
auch seiner Grenzen bewusst. Nach dem, was er in Konstantinopel
und vorhin in seiner Zelle gespürt hatte, war er nicht einmal sicher,
dass Abu Duns und seine Kräfte ausreichten, diesen Gegner zu überwinden. Dennoch schüttelte er nur noch einmal den Kopf.
»Wenn sie dich dort sehen, werden sie dich auf der Stelle töten«,
sagte er. »Und mich vermutlich auch.«
»Ein Grund mehr, mitzukommen«, sagte Abu Dun. »Jemand muss
doch auf dich aufpassen.«
»Ich meine es ernst«, beharrte Andrej. »Sie werden…«
»Niemand wird mich sehen«, unterbrach Abu Dun ihn. »Hast du
schon vergessen, dass mein Name Abu Dun lautet, der Vater der
Schatten?«
»Und ich dachte immer, es hieße ›Vater des Todes‹?«, gab Andrej
zurück.
Abu Dun grinste. »Das Arabische ist eine wundervoll vielseitige
Sprache, Hexenmeister. Seine Worte bedeuten immer genau das, was
gerade am nützlichsten ist.« Er wurde schlagartig sehr ernst. »Keine
Angst. Ich habe nicht vor, irgendetwas Dummes zu tun. Wir holen
Pedro und verschwinden, bevor sie überhaupt gemerkt haben, dass
wir da sind.«
Andrej gab auf. Nicht nur, weil er spürte, wie wenig Aussicht er
hatte, Abu Dun von seinem Vorhaben abzubringen - er war vor allem
froh, nicht allein gehen zu müssen. »Also gut«, sagte er. »Aber sei
um Himmels willen vorsichtig.«
»Versprochen«, grinste Abu Dun. »Ich bleibe immer hinter dir. Und
wenn jemand kommt,
Weitere Kostenlose Bücher