Der Gejagte
verstecke ich mich einfach hinter deinem breiten Kreuz.«
Auch die kleine Kammer, die in das gemauerte Gewölbe hinter dem
Tor eingelassen war, war leer. Andrej wäre nicht weiter erstaunt gewesen, den zweiten Posten, der dort normalerweise auf einem unbequemen dreibeinigen Schemel saß und im Wechsel mit seinem Kameraden draußen Wache hielt, nach den Strapazen der zurückliegenden Tage schlafend vorzufinden. Doch der Raum war verwaist.
Hinter ihm sog Abu Dun hörbar die Luft durch die Nase ein.
»Blut«, sagte er leise.
Andrej gebot ihm mit einer hastigen Geste zu schweigen und sah
sich rasch um. Er wusste, dass Abu Dun Recht hatte. Das süßliche
Aroma lag nur schwach in der Luft, aber es war da. Hier war Blut
geflossen, vor wenigen Minuten erst, schätzte er.
Andrej zog lautlos sein Schwert, während er aus dem niedrigen Alkoven zurücktrat und sich neben Abu Dun wieder aufrichtete. Er
brauchte die Waffe nicht. Der fast dreißig Fuß lange, gemauerte Torgang war vollkommen leer. Die beiden Wachen, die dort Dienst getan hatten, waren nicht da und würden auch nie zurückkommen. Das
einzige andere Lebewesen, dessen Nähe er spürte, war Abu Dun.
Dennoch beruhigte ihn das vertraute Gewicht der Waffe in der rechten Hand, als sie sich dem jenseitigen Ende des Tunnels näherten.
Das massive Fallgitter, das das Ende des Ganges abschloss, war nur
halb heraufgezogen, sodass sich Abu Dun darunter hindurchbücken
musste. Andrej bedeutete ihm zurückzubleiben und trat als Erster in
den engen Innenhof hinter dem Tor hinaus. Auch dort war niemand
zu sehen. Es herrschte vollkommene Stille. Das Einzige, was Andrej
hörte, waren die schleppenden Schritte eines müden Wächters, der
oben auf den Wehrgängen patrouillierte, weit genug entfernt, um
keine Gefahr darzustellen. Dennoch schüttelte er besorgt den Kopf,
nachdem er in den Himmel hinaufgeblickt hatte. In dem samtenen,
fast sternenlosen Schwarz über ihnen war ein erster, blassgrauer
Schimmer aufgetaucht.
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte er. »Vielleicht solltest du doch
besser wieder gehen.«
»Warum?« Abu Dun trat mit einem demonstrativen Schritt neben
ihn und sah ebenfalls nach oben. »Hast du Angst, es könnte anfangen
zu regnen?«
»Die Sonne geht bald auf«, antwortete Andrej unbeirrt. »Es wird
nicht mehr lange dauern, bis die Glocke zum Morgengebet ruft.«
»Und ich habe vergessen, meinen Gebetsteppich mitzubringen«,
sagte Abu Dun betrübt. »Ich weiß deine Sorge um mein Seelenheil
zu schätzen, mein Freund, aber Allah wird mir vergeben, wenn ich
mich einmal nicht gen Mekka verneige.«
»Vielleicht wird dein Kopf ja in Richtung Mekka rollen, wenn die
Glocke meine Ordensbrüder aus dem Schlaf reißt und sie dich hier
finden«, gab Andrej ruhig zurück. »Sei vernünftig, Abu Dun. Wenn
die Besatzung des Forts erwacht, hast du keine Chance mehr, unentdeckt zu bleiben.«
Abu Dun überlegte kurz und stieß Andrej in die Seite. »Ein Grund
mehr, uns zu beeilen«, sagte er. »Weißt du, wohin die Rekruten gebracht werden?«
Andrej deutete mit einer Kopfbewegung auf eine schmale Tür auf
der gegenüberliegenden Seite des winzigen Innenhofes, die mit eisernen Nägeln beschlagen und mit einem schweren Riegel gesichert
war. Für gewöhnlich stand auch dort Tag und Nacht ein Posten, für
den Fall, dass einer der Freiwilligen seinen Entschluss im Nachhinein bedauerte.
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Abu Dun. Er machte ein
grimmiges Gesicht und marschierte los, blieb aber schon nach dem
ersten Schritt wieder stehen und drehte mit einem Ruck den Kopf.
Diesmal spürte Andrej es im selben Moment - der Vampyr!
Der Hof blieb leer. Es war weder etwas zu sehen noch zu hören,
doch sie spürten die Gegenwart eines anderen ihrer Art so überdeutlich, als stünde er unmittelbar vor ihnen. Andrej schauderte, als ihm
bewusst wurde, welch unvorstellbar große Macht sich dort auf der
anderen Seite des Hofes verbarg. Die bloße Nähe dieses Wesens
schien ihm den Atem abzuschnüren und jeden Gedanken, sich mit
ihm messen zu wollen, lächerlich zu machen.
Abu Dun schien es kaum anders zu ergehen, denn er war ebenso
wie Andrej mitten in der Bewegung erstarrt. Vielleicht zum ersten
Mal überhaupt, seit Andrej den riesigen Nubier kannte, sah er so etwas wie Unsicherheit, ja, möglicherweise sogar Furcht auf dessen
Gesicht, wenn auch nur für einen Moment. Dann straffte er mit einer
entschlossenen Bewegung die Schultern und warf Andrej einen
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