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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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stürzte sich zusammen mit
ihm über die Brüstung. Vom Meer her wehte ein Kanonenschuss
heran, der das Geräusch ihres Aufschlages verschluckte.
Abu Dun schloss mit einem wimmernden Laut die Augen und sackte endgültig in sich zusammen, während sich in Andrej ein Gefühl
schrecklicher Leere auszubreiten begann. Julia war nicht seine Frau
gewesen, so wenig wie Pedro sein Sohn, doch hatte er denselben
Schmerz, den Abu Dun jetzt verspürte, schon einmal selbst durchlitten, und die Wunde, die er damals tief in seinem Inneren davongetragen hatte, war niemals wirklich verheilt.
Nach einer Weile, die vielleicht nur Minuten währte, in der die Zeit
aber jegliche Bedeutung verlor, sodass es ebenso gut Ewigkeiten
gewesen sein konnten, war es Andrej, der als Erster in die Wirklichkeit zurückfand.
Abu Dun saß zusammengekauert neben ihm. Er hatte das Gesicht in
den Händen vergraben, wie um seine Tränen zu verbergen, doch
Andrej hörte nicht den mindesten Laut. Müde hob er den Arm, um
seinen Freund an der Schulter zu berühren, doch dafür fehlte ihm
letztendlich der Mut. Er zog die Hand zurück und sagte auch nichts.
Es gab keine Worte, um den Schmerz zu lindern, den Abu Dun empfinden musste. Was immer er hätte sagen können, es hätte alles nur
schlimmer gemacht.
Irgendwann stand er auf, ging zu der Stelle, an der er sein Schwert
fallen gelassen hatte, und hob es auf. Obwohl er wusste, dass Abu
Dun ihn dafür hassen würde, setzte er seinen Weg fort und beugte
sich auf der anderen Seite der Plattform über die Brüstung. Es war
noch immer fast vollkommen dunkel, doch er konnte die beiden zerschmetterten Gestalten, die noch im Tod aneinander geklammert auf
den Felsen lagen, trotzdem erkennen. Sie rührten sich nicht und als
Andrej mit seinen übermenschlichen Sinnen nach dem Jungen suchte, fand er ihn nicht.
Ein bitterer Geschmack begann sich auf Andrejs Zunge auszubreiten. Das Geschenk, das Abu Dun dem Jungen gemacht hatte, hatte
nicht lange vorgehalten. Er hatte ihm das Leben zurückgeben wollen,
doch stattdessen hatte er ein weiteres Leben genommen - vielleicht
das, das ihm auf der ganzen Welt am wichtigsten gewesen war. Andrej kannte den Schmerz, den der Nubier durchlitt. Er kannte ihn nur
zu gut. Er selbst spürte ihn seit mehr als einem Menschenalter, und er
war in all dieser Zeit niemals auch nur um eine Winzigkeit schwächer geworden.
»Das Boot, von dem du erzählt hast«, sagte er, indem er zwar seinen Blick von den beiden reglosen Körpern unter sich losriss, sich
aber nicht zu Abu Dun umdrehte, »glaubst du, dass wir es schaffen,
die Blockade damit zu durchbrechen?«
Abu Dun sagte nichts, doch Andrej konnte hören, wie er aufstand.
Wieder vergingen endlose Augenblicke. Schließlich sagte Abu Dun
leise, bitter, aber ohne dass Andrej auch nur die mindeste Spur von
Vorwurf in seiner Stimme hörte: »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Was?«
»Dass einer von unserer Art niemals eine Sterbliche lieben darf«,
antwortete Abu Dun.
»Ich habe es versucht«, erwiderte Andrej. Er kam sich billig bei
diesen Worten vor. Er war nicht einmal sicher, ob er es tatsächlich je
ernsthaft versucht hatte.
»Ja«, seufzte Abu Dun. »Wahrscheinlich hast du das. Und wahrscheinlich wollte ich dir nicht glauben. Jetzt gehören wir wirklich
zusammen, nicht?«
Andrej nickte nur stumm. Nach all der Zeit, die sie gemeinsam
durch die Welt zogen, kannte Abu Dun nun auch sein letztes finsterstes Geheimnis. Aber er hätte alles darum gegeben, dieses Geheimnis
nicht mit dem Nubier teilen zu müssen. Durch Julias Tat war der
Nubier endgültig so geworden wie er: ein Verfluchter. Ein einsamer
Mann, der dazu verdammt war, vielleicht tausend Jahre oder mehr
durch diese Welt zu ziehen, ohne die geringste Hoffnung, den kostbarsten aller Schätze zu erlangen, der an all die anderen sterblichen,
verwundbaren Menschen so überreichlich verschenkt wurde: die
Liebe eines anderen Menschen.
»Und wohin segeln wir?«, fragte Abu Dun.
Andrej hob die Schultern und wandte sich mit einer müden Bewegung von der Mauerbrüstung ab. »Spielt das eine Rolle?«, fragte er.
»Irgendwohin, wo Frieden herrscht. Falls es einen solchen Ort gibt.«
Als er neben Abu Dun die Treppe betrat, die in den Hof hinunterführte, traf eine besonders gut gezielte oder vielleicht auch nur verirrte Kanonenkugel die Wehrmauer hinter ihnen und sprengte ein fast
mannsgroßes Stück aus der Brüstung. Es interessierte ihn nicht mehr.
ENDE DES

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