Der Gejagte
aufgeregt. »Hast du ihn gefunden?«
Andrej bedeutete ihr hastig, leiser zu reden.
»Nein«, erwiderte er scharf. »Und das werden wir auch nicht, wenn
Ihr nicht still seid.«
Er deutete auf eine schmale Gasse zwischen den Häusern auf der
gegenüberliegenden Seite des großen Platzes, an dem das Ordenshaus lag. Julia wollte etwas sagen, doch Abu Dun ergriff sie fast grob
beim Arm und führte sie mit so schnellen Schritten über den Platz,
dass sie rennen musste und wahrscheinlich gestürzt wäre, hätte er sie
nicht zugleich auch festgehalten. Erst als sie die Gasse erreicht hatten
und ein halbes Dutzend Schritte tief in den Schutz ihres Schattens
hinein zurückgewichen waren, lockerte er seinen Griff. Julia riss ihren Arm los und wich hastig zwei Schritte zurück.
»Erzählt mir genau, was passiert ist«, sagte Andrej, bevor sich der
Zorn, den er in ihren Augen las, über Abu Dun ergießen konnte.
»Pedro ist weg«, antwortete sie. »Wir haben überall nach ihm gesucht, aber er ist und bleibt verschwunden. Ein paar Männer sagen,
sie hätten ihn oben an der Pforte St. Angelos gesehen. Er hat Franciscos Gewehr mitgenommen.«
»Habt Ihr Euch dort nach ihm erkundigt?«, fragte Andrej.
»Ich war da«, antwortete Julia. Ihre Stimme bebte. Andrej sah ihr
an, dass sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. »Sie
haben mich nicht hineingelassen. Ich habe die Männer angefleht,
aber sie haben mich ausgelacht und weggejagt.«
»Aber niemand hat gesehen, dass er wirklich ins Fort gegangen
ist?«, vergewisserte sich Andrej.
»Nein«, sagte Julia.
Abu Dun fügte in kaum weniger besorgtem Ton hinzu: »Wo soll er
sonst sein? Wir haben das ganze Dorf abgesucht. Und du hast gehört,
was er oben auf dem Hügel gesagt hat.«
Die letzte Bemerkung, fand Andrej, war höchst überflüssig gewesen.
Er warf Abu Dun einen ärgerlichen Blick zu, der ihm bedeutete,
schon um Julias willen endlich zu schweigen, und fuhr in besänftigendem Tonfall fort: »Ich werde mich darum kümmern. Wenn der
Junge wirklich im Fort ist, dann finde ich ihn, das verspreche ich.«
»Sie werden ihn nicht gehen lassen«, sagte Julia. Ihre Stimme bebte
immer heftiger, drohte zu brechen. Es gelang ihr zwar noch, die Tränen zurückzuhalten, aber gewiss nicht mehr lange.
»Das werden sie«, antwortete Andrej mit so viel Überzeugung, wie
er nur konnte. »Ob nun mit dem Gewehr seines Vaters oder nicht, er
bleibt ein Kind, das bei der Verteidigung bestimmt nicht von großem
Nutzen ist. Wenn es sein muss, spreche ich mit dem Großmeister
selbst. Aber ihr beide solltet jetzt nach Hause gehen.«
»Du glaubst doch nicht, dass wir jetzt…«, begann Abu Dun, aber
Andrej brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Schweigen.
»Genau das glaube ich«, sagte er. »Lauft von mir aus noch einmal
durch die Stadt und klopft an jede Tür, aber die Festung überlasst ihr
mir. Wenn der Junge dort ist, dann finde ich ihn und bringe ihn zurück. Das verspreche ich.«
Abu Dun wollte auffahren, doch dann zuckte er wie vom Blitz getroffen zusammen und drehte sich hastig um.
Andrej blickte aufmerksam in dieselbe Richtung. Die schmale Straße, in der sie Zuflucht gesucht hatten, führte schräg ansteigend direkt
hinauf zum Fort St. Angelo. Für einen Augenblick glaubte er eine
Gestalt in den Schatten zu erkennen, die ein Mönchsgewand trug,
fast wie die Ordenskapläne. Aber sie war verschwunden, noch bevor
er sicher sein konnte. Vielleicht nur ein Geistlicher auf dem Weg zur
Morgenmesse in einer der zahlreichen Kapellen der Stadt.
»Geht jetzt«, sagte er. »Ich bringe euch den Jungen zurück. Und ich
werde ihm gehörig den Hosenboden stramm ziehen, mein Wort darauf.«
Julia wirkte immer noch nicht überzeugt. Wie konnte sie auch? Es
war lange her, dass Andrej eine Familie gehabt hatte, und doch hatte
er den Schmerz nicht vergessen, den man verspürt, wenn man sein
eigen Fleisch und Blut verliert.
»Andrej hat Recht«, gab Abu Dun widerwillig zu. »Das Beste wird
sein, wir teilen uns auf. Andrej sucht im Fort, und ich werde noch
einmal durch die Stadt gehen und jeden Stein umdrehen. Aber zuvor
bringe ich dich nach Hause.«
Julia schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann nicht müßig herumsitzen
und die Hände in den Schoß legen…«
»Und wenn er zurückkommt, während wir alle unterwegs sind und
nach ihm suchen?«, unterbrach Abu Dun ihre angsterfüllten Worte.
Sein Blick schien noch einmal in die Richtung zu irren, in die der
Mönch soeben
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