Der Gejagte
verschwunden war. Andrej sah dem Gesicht des Nubiers förmlich an, dass er sich eine Frage stellte und diese gleich darauf selbst beantwortete. Er glaubte sogar, die Frage erraten zu können, wenn er sich nur ein wenig anstrengte, aber sie hatten zurzeit
wahrlich andere Probleme.
»Ich gebe dir Bescheid, wenn der Junge wieder auftaucht«, sagte
Abu Dun. »Und du umgekehrt mir.«
Andrej beließ es bei einem Nicken, drehte sich auf dem Absatz um
und entfernte sich rasch, bevor Julia abermals widersprechen konnte.
Irgendetwas stimmte nicht. In Abu Duns Blick hatte etwas gelegen,
das ihn irritierte. Er war nicht sicher, dass es tatsächlich nur mit Julias verschwundenem Sohn zu tun hatte.
Mit schnellen Schritten ging er die steil ansteigende, mit Kopfstein
gepflasterte Straße zum Fort hinauf. Rings um ihn herum begann die
Stadt allmählich zu erwachen. Er konnte hören, wie sich die ersten
Schläfer in ihren Betten regten, die ersten Stühle scharrten, Holzscheite auf die fast erloschene Glut des Ofens geworfen wurden.
Nichts davon war außergewöhnlich, und doch verspürte er eine immer stärker werdende Unruhe, die noch zunahm, je weiter er sich der
Festung näherte.
Er hatte die schmale hölzerne Zugbrücke vor dem geschlossenen
Tor schon fast erreicht und setzte gerade dazu an, den Wächter dahinter gegebenenfalls mit einem lauten Ruf aus dem Schlaf zu reißen,
als er hastige Schritte hinter sich hörte. Er blieb stehen und legte die
Hand auf das Schwert, während er sich umdrehte. Im nächsten Moment zog er die Finger wieder zurück und runzelte überrascht die
Stirn.
Es war niemand anderes als Abu Dun, der mit weit ausgreifenden
Schritten auf ihn zusteuerte. Dabei verursachte er kaum ein Geräusch, das ein gewöhnliches menschliches Ohr wahrgenommen hätte, und in seiner schwarzen Kleidung verschmolz er so perfekt mit
der Nacht, dass er auch von den Zinnen des Forts aus vollkommen
unsichtbar sein musste. Dennoch verfinsterte sich Andrejs Gesicht,
als der Nubier bei ihm ankam.
»Du legst es wohl drauf an, wie?«, murmelte er übellaunig.
»Eine Frage noch, Andrej«, sagte Abu Dun, ohne auf diese Bemerkung einzugehen. »Vorhin, auf dem Hof - wie lange hast du mich da
beobachtet, bevor du versucht hast, mir den Kopf abzuschneiden?«
»Beobachtet?« Im ersten Moment wusste Andrej mit dieser Frage
nicht viel anzufangen. Dann antwortete er mit einer Bewegung, die
irgendwo zwischen einem Kopfschütteln und einem Achselzucken
lag: »Nicht lange. Ein paar Atemzüge… vielleicht eine halbe Minute.«
»Gewiss nicht länger?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Zum Teufel, was soll das?«
»Und warum bist du überhaupt herausgekommen?«, beharrte Abu
Dun.
»Weil du rausgegangen bist«, erwiderte Andrej. Er machte eine ärgerliche Geste und warf einen Blick über die Schulter zum Tor zurück. Ihm fiel erst jetzt auf, dass es halb offen stand. Von dem Wächter war weit und breit nichts zu sehen. Hatte er Abu Dun und ihn
entdeckt und war bereits unterwegs, um Meldung zu machen, dass
sich der Verräter des Nachts mit dem muselmanischen Spion traf?
»Ich?«, vergewisserte sich Abu Dun. »Wie meinst du das?«
»Du warst in meiner Kammer«, antwortete Andrej. »Die Tür war
offen, und ich habe deine Nähe gespürt.«
»Glaub mir, Hexenmeister, ich wüsste eine Menge Kammern, in die
ich eher einsteigen würde als in deine«, erwiderte Abu Dun mit einem anzüglichen Grinsen, aber in einem so ernsten Tonfall, dass
Andrej ihn alarmiert ansah.
»Was soll das heißen?«, fragte er. »Ich bin wach geworden, weil
ich deine Nähe gespürt habe.«
»Und ich habe mich an dich herangepirscht, weil du mich auf diesem Innenhof minutenlang belauert hast«, behauptete Abu Dun.
»Das habe ich nicht«, erwiderte Andrej, und Abu Dun fügte mit einem Nicken und in nüchternem Ton hinzu: »So wenig, wie ich in
deiner Nähe war.«
»Aber, wenn du es nicht warst«, murmelte Andrej, »und ich nicht
draußen bei dir auf dem Hof…«
»… wer war es dann?«, führte Abu Dun den Satz zu Ende.
Andrej starrte ihn an. Plötzlich fielen ihm tausend Kleinigkeiten
ein, die ihm in den vergangenen Tagen aufgefallen waren, die er aber
nicht richtig gedeutet hatte; hundert Fragen, die er sich nicht gestellt
hatte, weil er ganz selbstverständlich davon ausgegangen war, dass
es nur Abu Dun hatte sein können, dessen Präsenz er spürte.
»Er ist hier«, sagte Abu Dun.
Es vergingen endlose Sekunden, in denen sich Andrej weigerte zu
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