Der gelbe Handschuh
ließen sich inzwischen von den Wellen in den Schlaf schaukeln.
Nur Herr Wagner lag noch wach.
Das lag in seiner Berufsgewohnheit. Er las jeden Abend im Bett seine Zeitung, weil er dazu tagsüber in seiner Portiersloge im Hotel Kempinski natürlich keine Zeit fand.
Er hatte sich also die Daily Mail aus der Tasche geholt, die er noch im New Yorker Hafen bei dem langen Neger gekauft hatte.
Als er zum ersten Mal umblätterte, mußte Herr Wagner auch zum ersten Mal gähnen.
Beim zweiten Umblättern gähnte er zum zweiten Mal.
Und beim dritten Umblättern fielen ihm beinahe schon die Augen zu. Seine Hand suchte bereits den Knopf an der Nachttischlampe. Aber dann sagte er plötzlich zu sich selbst: „Das kann doch nicht wahr sein.“
Gleich darauf saß er in seinem Bett so aufrecht wie auf einem Stuhl und hatte den Telefonhörer in der Hand. „Verbinden Sie mich bitte mit Kabine 224.“
„Ja bitte?“ fragte die Stimme von Peter Finkbeiner nach einer Weile.
„Könnte ich bitte meinen Sohn sprechen?“ fragte Herr Wagner. „Ich hoffe, die Herren hatten nicht schon geschlafen?“
„Das macht fast überhaupt nichts.“
Anschließend konnte Herr Wagner noch hören, wie Peter sagte: „Wach auf, du Knalltüte, dein Vater will dich sprechen.“ Und dann knackste es im Hörer.
„Um Himmels willen, was gibt's denn?“ fragte Ulli zwei Sekunden später.
„Hier spricht das Kempinski aus Berlin und möchte den Hotelboy Ulli Wagner sprechen. Im Hotel geht alles drunter und drüber, seitdem er verschwunden ist.“
„Seit wann piept’s bei dir mitten in der Nacht?“ Ulli unterbrach seinen Vater. „Oder bist du seekrank?“
„Im Gegenteil“, lachte Herr Wagner, „ich fühle mich pudelwohl und lese da gerade in der heutigen Daily Mail eine sehr interessante Geschichte. Könntest du bitte auch deinen Freund Peter mithören lassen?“
„Ich bin schon am Draht“, ließ sich Peter hören. „Schießen Sie los.“
„Kostbare Fracht an Bord der MS Europa“, las Herr Wagner vor und erklärte: „Das ist die Überschrift.“
„Sollte da von uns die Rede sein?“
„Mehr Ernst, wenn ich bitten darf‘, erwiderte Herr Wagner und fing an, aus der Zeitung vorzulesen: „Nachdem die Mona Lisa von Leonardo da Vinci wochenlang die Besucher der Internationalen Gemäldeausstellung in New York begeistert hat, reist das weltberühmte Bild jetzt an Bord der MS Europa nach Puerto Rico zur dortigen Ausstellung in San Juan. Der Transport per Schiff ist von der Versicherungsgesellschaft einer Verschickung im Flugzeug vorgezogen worden. Direktor Prunelle vom Louvre in Paris, wo das einzigartige und auf mehrere Millionen geschätzte Gemälde zu Hause ist, begleitet den Transport, der später bis Japan weitergehen soll. Natürlich sind besondere Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden. Im übrigen sollte das ganze Unternehmen bis zum Eintreffen des Bildes in San Juan geheimgehalten werden. Aber einem unserer Reporter ist es gelungen...“
„Die schmale Kiste“, japste Ulli aufgeregt.
„Deshalb die Burschen mit den Pistolen in den Taschen“, kombinierte Peter.
„Ja, eine Dame, die ziemlich viel Wind macht“, sagte Herr Wagner. „Gute Nacht, die Herren.“
Er legte den Telefonhörer wieder auf den Apparat und knipste jetzt endgültig die Nachttischlampe aus.
Da gondelt also die weltberühmte Mona Lisa mit uns durch die Geografie, dachte Herr Wagner noch. Es ist nicht zu fassen.
Ein Passagier verläuft sich
Etwa zwölf Stunden später zeigte es sich wieder einmal, daß die gleiche Nachricht in einer Zeitung bei verschiedenen Lesern auch ganz verschiedene Wirkungen hervorrufen kann.
Mister Palmer aus London jedenfalls war außer sich.
Er hatte beim Frühstück die gestrige Ausgabe der Daily Mail gelesen. Und genau in dem Augenblick, als er einem frischgekochten Ei gerade den Kopf abschlagen wollte, entdeckte er den Artikel über die Einschiffung der Mona Lisa in New York. Er ließ Frühstück Frühstück sein, klemmte sich die Zeitung unter den Arm und tigerte los.
Der Museumsdirektor, Monsieur Prunelle, war in seiner Kabine beim Zähneputzen, als es an die Tür klopfte.
„En avant!“ rief er, was soviel hieß wie „Herein!“. Er dachte, es handelte sich um den Kabinensteward, den er kurz vorher um eine Kopfschmerztablette gebeten hatte. Der Franzose hatte nicht besonders gut geschlafen.
Aber anstelle des Stewards stand jetzt plötzlich dieser baumlange Mister Palmer in der Tür und
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