Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
und ging ohne Eile aufrecht davon.
Der Kellner näherte sich von hinten, der Teller mit dem Sorbet landete hart auf dem Tisch vor Raimondi.
Er nahm einen Löffel, reichte ihn Stiller und begann selbst mit dem Sorbet. »Greifen Sie zu. Es ist einfach unbeschreiblich. Und nach dieser Einlage könnte mir nichts besser schmecken.«
Stiller griff zu, führte den Löffel zum Mund. Kilian konnte nicht genau sehen, was da passierte, doch als Stiller den Löffel wieder aus dem Mund nahm, beugte er sich abrupt zur Seite, spuckte das Sorbet aus und würgte. Dann nahm er ein Glas Wasser, spülte damit und spuckte wiederum alles in die Hecke.
»Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte Raimondi überrascht.
Stiller sammelte sich und versuchte seinen Puls zu beruhigen. »Wenn ich gewusst hätte, dass das ein Kiwi-Sorbet ist, hätte ich es nie angerührt.«
»Mögen Sie keine Kiwis?«
»Ich reagiere hyperallergisch darauf, es könnte mein Tod sein, wenn ich sie irrtümlich zu mir nähme.« Raimondi nahm es gelassen und lachte. »Glück für Sie, dass Sie es rechtzeitig bemerkt haben. Und Glück für mich, sonst fehlte mir heute Abend der Dirigent.«
Nachdem Raimondi gegessen und gezahlt hatte, erhoben sich die beiden und gingen in Richtung Theater. Kilian folgte ihnen.
18.45 Uhr. Die Atmosphäre im Haus war aufgeladen. Noch fünfundvierzig Minuten bis zum Premierenbeginn. Mit jeder weiteren Minute, in der der Uhrzeiger auf 19.30 Uhr zusteuerte, steigerte sich die Energie. Ihr Kern war die Bühne. Alles strebte dorthin, wie von Geisterhand gelenkt, dem Naturgesetz der Anziehungskraft gehorchend. Jeder Gedanke, jede Muskelfaser war darauf ausgerichtet, die Anspannung war bei jedem spürbar.
Kilian betrat das Mainfrankentheater über den Bühneneingang. Auf dem langen Flur, an dessen einem Ende der Zugang zur Bühne war, herrschte rege Betriebsamkeit. Techniker des ZDF mit Walkie-Talkies gaben Kommandos, überprüften das Zusammenspiel von Kamera, Ton und Regie, so, wie es Flugkapitäne vor jedem Start im Cockpit tun.
Eine Frau im roten Abendkleid ging davon unbeeindruckt im Gang auf und ab. In der Hand einen Zettel, dessen Text sie auswendig zu lernen versuchte. Sie war bereits geschminkt, eine weiße Papierserviette hing um ihren Hals, damit sie ihre Garderobe nicht aus Versehen beschmutzte.
Aus der Maske drang Gelächter. Es klang nach Kayleen McGregor. Sie bewältigte die Anspannung mit Humor, eine Methode, wie Künstler dem Lampenfieber begegneten. Die Tür öffnete sich. Kilian sah, wie Raimondi dem polnischen Leporello Roman toi-toitoi wünschte und ihm dabei andeutungsweise dreimal über die Schulter spuckte. Roman nahm es regungslos hin. Es war, als sei er weder geistig noch körperlich anwesend. Er war ganz auf seine Rolle fixiert, war in sie eingetaucht, füllte sie bereits jetzt gänzlich aus. Geschminkt und im Morgenmantel kam er heraus. Wie ferngelenkt steuerte er auf das Treppenhaus zu und verschwand dort.
Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut. Kilian erkannte Aminta Gudjerez. Raimondi übte an ihr dasselbe Ritual und küsste sie zum Abschluss. Als sie heraustrat, bemerkte Kilian, dass die geschwollene Wange gut abgeheilt war. Das blaue Auge war unter der Schminke verschwunden.
Vom Treppenhaus her kam Takahashi. Er trug bereits den olivgrünen Seidenanzug für seinen Auftritt. Ohne anzuklopfen betrat er die Maske. Kilian erhaschte noch einen Blick auf Raimondi, bevor die Tür sich schloss. Er nahm Takahashi in die Arme, lächelte ihm Mut zu. Takahashi jedoch zitterte. Seine Arme und Hände hingen wie leblos an seinem Körper.
Über die Lautsprecheranlage erklang Jeannes Stimme. Sie war ruhig, aber bestimmt. »Es ist neunzehn Uhr. Das ist das erste Zeichen zur Premiere des
Don Giovanni
. Ich bitte alle Techniker und Michail Lermonow, den Komtur, zum Soundcheck auf die Bühne … und noch etwas: Wir sind ausverkauft.«
Kilian ging durch die beiden Stahltüren zur Bühne. Er sah einen der Techniker Jeanne umarmen, ihr toitoi-toi wünschen und dreimal über die Schulter spucken. Dann tauschten sie kleine Geschenke aus. Ein weiteres Ritual unter Theaterleuten. An ihrem Inspizientenpult zeigten die Monitore Bilder aus dem Orchestergraben und die Totale von der Bühne, die von einer Kamera weit hinten aus dem Zuschauerraum übertragen wurde. Weitere Monitore waren ringsum am Bühnenrahmen angebracht. Sie zeigten das noch leere Pult, an dem der Dirigent später stehen würde. Das Bild des Dirigenten würde den
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