Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
Sängern in jeder Situation und Position auf der Bühne signalisieren, wann die jeweiligen Einsätze erfolgen sollten.
Kilian betrat die Bühne. Im Orchestergraben saßen bereits ein Cellist und ein Flötist. Sie übten ihre Parts. Der Zuschauerraum war bis auf die Kameraleute des ZDF noch leer. Auch hier fand die gleiche Routine statt.
Hoch oben über der Galerie erkannte er Tontechniker. Sie standen in Funkkontakt mit ihrer Basis, Jeanne. Test-Test-Test und andere Kommandos wurden ausgetauscht. Der Komtur, Michail Lermonow, war inzwischen eingetroffen. Er nahm auf dem roten
Sofa mitten auf der Bühne Platz. Er begann seinen Part zu singen, während die Tontechniker die Anlage auspegelten und Jeanne den Funkkontakt mit ihrer Mannschaft prüfte. Rund zehn Bühnentechniker waren an ihrer Seite an den Zügen aufgereiht.
Einen nach dem anderen sprach sie über das Mikro an und erhielt eine Bestätigung. Nur einer blieb stumm.
»Robert … Robert, hörst du mich«, sprach sie ins Mikro.
Keine Antwort. Sie beugte sich vor, überblickte die Reihe der Kollegen. »Verdammt, schalt dein Funkgerät an«, rief sie nach hinten.
Kilian schaute unterdessen in den Souffleurkasten. Er war leer. Franziska musste sich irgendwo im Haus aufhalten. Er ging sie suchen.
Auf dem Gang vor der Tür zur Maske fand er sie. Sie war im Gespräch mit Raimondi. Die beiden stritten, das konnte Kilian noch erkennen, bevor sie ihn sahen; dann verstummten sie und gingen ein paar Meter weiter, um ungehört weiter zu debattieren. Franziska war außer sich.
Das konnte jeder sehen, auch wenn man die Worte, die sie austauschten, nicht verstehen konnte. Raimondi war weitaus gelassener. Wie bei der Garibaldi zuvor hörte er zwar zu, quittierte aber jede Beschimpfung Franziskas mit einem Lachen. Als er sich von ihr trennte und wieder in die Maske ging, rief Franziska ihm nach: »Du wirst es noch bereuen.«
Über die Lautsprecheranlage meldete sich Jeanne.
»Es ist neunzehn Uhr fünfzehn. Das ist das zweite Zeichen für den
Don Giovanni
.«
Raimondi öffnete die Tür, und Kilian sah, in welchem Zustand Takahashi sich befand. Fertig geschminkt saß er auf dem Stuhl und starrte leblos in den Spiegel vor sich. Kilian hörte noch ein »Nein, ich kann das nicht« von ihm, als die Tür sich wieder schloss.
»Es läuft wohl doch nicht alles nach Plan«, sagte Kilian zu Franziska.
Sie wollte sich mit dem Ausgang ihres Streits nicht abfinden. »Das werden wir noch sehen«, giftete sie zurück und verschwand in Richtung Bühne.
Die Zeit der Überraschungen war noch nicht vorüber. Kilian wollte seinen Augen nicht trauen, als er Vladimir im gleichen Kostüm wie Takahashi sah, der aus dem Treppenhaus auf ihn zusteuerte.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Kilian.
»Ich singe den
Don Giovanni
«, antwortete er und verschwand in der Maske.
Kilian hörte Raimondis Stimme durch die Tür. Sie war zornig und aufgebracht. »Schafft mir diesen Schwachkopf endlich aus den Augen!«
Es dauerte keine Minute, bis Vladimir wieder auf dem Gang stand.
»Sie singen den
Don Giovanni
also doch nicht?«, fragte Kilian. Mittlerweile rechnete er mit allem. Er war gespannt, was sich im Sog der verrinnenden Zeit bis zum Beginn der Premiere noch alles abspielte.
Vladimir antwortete nicht. Missmutig entfernte er sich.
Die Uhr ließ sich nicht aufhalten. »Neunzehn Uhr fünfundzwanzig. Das ist das dritte Zeichen. Ich bitte den Dirigenten Beat Stiller, alle Solisten und die Techniker auf die Bühne.«
Aus einem der Zimmer entlang des Gangs kam die Frau im roten Kleid heraus. Sie würde den Abend aus dem Mainfrankentheater für die Zuschauer am heimischen Fernseher moderieren. Mit ihren hochhackigen Schuhen mühte sie sich, den Kabeln am Boden auszuweichen. Kilian gab den Gentleman und öffnete ihr die Stahltüren. Er geleitete sie zum Inspizientenpult, von dem aus sie mit nur zwei Schritten die Bühne betreten konnte. Der Vorhang hin zum Zuschauerraum war noch unten. Über die zahlreichen Bildschirme sah Kilian, dass die Gäste ihre Plätze eingenommen hatten. In der ersten Reihe erkannte er neben der Oberbürgermeisterin den Ministerpräsidenten des Landes, Roiber, mit Ehefrau und links und rechts von ihnen nahezu das gesamte Kabinett des Freistaates. Dahinter hatten es sich bekannte Namen aus Wirtschaft und Kulturleben gemütlich gemacht. Der Abend dürfte genau nach dem Geschmack Raimondis sein, sagte sich Kilian, Er hatte alles dafür getan, und offensichtlich hatte er
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