Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
und wartete, bis der Letzte aufgehört hatte zu klatschen. Ein kurzer Moment der Stille. Dann die ausgestreckten Arme Stillers über dem Orchester. Die Musiker setzten an, warteten bis zum finalen Zeichen. Stiller blickte durch die Reihen, bis er sich der Aufmerksamkeit aller bewusst war.
Dann war es so weit. Stillers Arme sausten herab wie ein Blitz vom Himmel. Er hielt den ersten explosiven, überfallartigen Takt aufrecht, forderte ihn abermals, während seine Arme und der Stab in seiner rechten Hand die kommende Gefahr heraufbeschworen. Er befehligte seine Streicher, Bläser und die Pauken einem Feldherrn gleich, forderte den sanften Rückzug der Streicher zu seiner Linken, um aus der Deckung noch eindrucksvoller mit Hörnern und Pauken aus der Mitte und zu seiner Rechten einen Angriff nach dem anderen zu reiten.
Ein nackter Leporello, nur in Boxershorts gehüllt, schlich sich aus der Nullgasse auf seinen dunklen Platz, der roten Couch. Am Ende der Ouvertüre musste er den erwachenden Diener seines Herrn spielen, während jener sich mit Donna Anna in ihrem Schlafgemach verlustierte.
Er streckte sich breit auf der Couch aus. Jeanne befahl die genau festgelegte Atmosphäre für die Anfangsszene, die schwarzblaue Lichtstimmung eines strahlenden Mondes zog auf und schien auf ihn herab. Gleichzeitig öffnete sich der Vorhang und gab den Blick frei.
Romans mächtiger Bariton erhob sich zum Protest.
»Notte e giorno faticar, per chi nulla sa gradir …« Das Spiel hatte begonnen.
Kilian sah im Augenwinkel zu seiner Linken, dass Raimondi die Bühne von hinten betrat. Er manövrierte an den Technikern vorbei, schaute, ob es tatsächlich Raimondi war, der den
Don Giovanni
übernehmen wollte. Hinter der Bühne, hoch oben im Gestänge der Bauten, erkannte er Kayleen, die halb nackte Donna Anna im Dessous, Michail Lermonow, den Komtur, und schließlich Raimondi. Ja, er war es und wollte es wirklich wagen. Nach über zwei Jahren ohne Gesang und Übung, von null auf hundert, vom Regisseur zum Darsteller.
Nur etwas fehlte. Raimondi war nicht im Kostüm des ursprünglichen
Don Giovanni
. Er trug, wie fast immer, seine schwarze Lederkluft. Das konnte dennoch passen. Raimondi war in dieser Kleidung berühmt geworden. Aber er brauchte noch eine Maske. Er fackelte nicht lange, nahm ein Taschentuch zur Hand und band es sich um.
Leporellos Arie ging zu Ende, der Einsatz
Don Giovanni
s und Donna Annas stand kurz bevor.
»Verdammt«, fiel es Raimondi ein, »mein Degen.«
Es war keine Zeit mehr dafür, sie mussten hinaus. Polternd liefen sie den Laufsteg entlang, nahmen die Treppe nach unten.
Donna Annas zorniges »Non sperar …« hallte über die Bühne. Es mündete in das Duett mit
Don Giovanni
. Seine Stimme erklang beeindruckend sicher und geschmeidig, als hätte er niemals mit dem Singen aufgehört.
Jeanne hatte inzwischen Leporello an den Bühnenrand gelotst. Sie reichte ihm
Don Giovanni
s Degen. Er würde ihn im passenden Moment seinem Herrn zuwerfen. Und Roman tat es so selbstverständlich, als handle er exakt nach Skript. Niemand fiel auf, dass hier hemmungslos improvisiert wurde.
Und niemand achtete auf die Souffleuse in ihrem Kasten. Von allen unbeachtet, verfolgte sie das Spiel und schmiedete ihr eigenes.
*
Ich habe es geahnt.
Er wird mich nochmals betrügen, so wie vor Wochen, als er die Jury gegen mich aufgebracht hat. Damals habe ich dich noch verschont, jetzt aber ist die Zeit der Abrechnung gekommen.
Ich habe vorgesorgt. Habe mir alle Möglichkeiten offen gelassen. Du wirst nicht ahnen, woher die Gefahr kommt, du bist dir ihrer noch nicht einmal bewusst. Es ist so einfach, dass ich vor Glück schreien könnte. Doch ich tue es nicht, denn ich bin wütend.
Wie kannst du es wagen?!
Du hast mir den Taktstock versprochen, nicht nur für diesen Abend. Wir wollten auf Tournee gehen, an allen großen Häusern unseren Don Giovanni geben und den Erfolg feiern. Zusammen, du, der Regisseur, ich, die junge Maestra. Das war Teil der Abmachung. Ich habe meinen Beitrag erfüllt, du nicht. Abermals wolltest du mich hintergehen.
Wie kannst du nur glauben, dass ich still dasitzen werde und mich von dir
betrügen, verhöhnen und verlachen lasse. Ich kann es nicht glauben.
Du fühlst dich unangreifbar und überlegen, denkst, alle Fäden in der Hand zu haben. Ich habe Neuigkeiten für dich: Es ist genau andersherum. Nein, nicht ich werde weinen, sondern du.
Deine Welt soll in Flammen untergehen.
Tröste dich, du wirst
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