Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
den Weg.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er.
»Würde Sie ein Nein davon abhalten?«, antwortete sie nicht übermäßig freundlich.
»Kaum.« Kilian setzte sich. Er sah, dass es ihr spürbar unangenehm war, dass sie am Tag der Premiere belästigt wurde. »Ich muss zugeben«, begann er, »dass ich mich gehörig in Ihnen getäuscht habe.«
»Muss mir das jetzt Leid tun?« Franziska spielte die Überlegene. Tatsächlich war sie im Vorteil, dachte Kilian, denn er wusste noch immer nicht, wie er ihr die Machenschaften mit Raimondi und den Waffenbesitz beweisen konnte. Alle Indizien, die sie mit dem Tod Sandners und den beiden getürkten Anschlägen auf Raimondi in Verbindung bringen könnten, beruhten auf der Aussage eines fragwürdigen Zeugen und dem Fehlen einer eindeutigen und nachweisbaren Spur, die sie an den Tatorten zurückgelassen hatte.
»Wenn ich etwas aufmerksamer gewesen wäre«, sagte er, »hätte mir gleich auffallen müssen, dass Sie diejenige sind, die die Fäden in der Hand hat.«
»Ah ja?«
»Nachdem Sie dem psychisch instabilen Sandner die Waffe untergeschoben haben, brauchten Sie nur noch dem KBB und dem Intendanten die Telefonnummer und den Namen Raimondis reinzufaxen, und alles nahm seinen Lauf. Sie müssen zugeben, Ihr Plan war nicht frei von Risiken; aber wenn jemand die Verhältnisse und die beteiligten Personen am Mainfrankentheater so gut kennt wie Sie, musste zwangsläufig alles so kommen, wie es kam.«
»Sie sprechen immer noch in Rätseln«, widersprach sie, wenngleich ihre unruhige Hand am Glas bestätigte, dass Kilian jetzt richtig lag.
»Nun«, fuhr er fort, »Sie hatten einen Plan. Sie besprachen ihn mit Raimondi an dem Abend im
Stachel
. Anfangs war er nicht davon überzeugt, doch dann warfen Sie ihm einen Köder hin, dem er nicht widerstehen konnte.«
Franziska lachte kurz auf. »Einen Köder? Ein netter Ausdruck. Was könnte es sein, um einen Mann wie Raimondi zu locken?«
Sie hatte ins Schwarze getroffen, Kilian wusste es noch immer nicht. Sie genoss sichtlich ihre Überlegenheit. Für sie war alles nur ein Spiel, eine Inszenierung von Leben und Tod, ein Wettstreit zweier Meister ihres Fachs.
Was war es, das Franziska und Raimondi gemeinsam reizen würde, dafür einen Mord und einen Suizid in Kauf zu nehmen?
Kilian fragte sich darüber hinaus, ob noch jemand anderes an ihrem Plan beteiligt war. Hatten sie wirklich allein das alles umsetzen können, und was mochten sie noch für den Abend planen?
»Wenn Ihnen weiter nichts einfällt, dann würde ich gerne noch ein paar Minuten für mich alleine sein«, sagte Franziska und unterbrach damit seine Gedanken.
»Ich behalte Sie im Auge«, antwortete er mit einer leisen Drohung.
Franziska nahm die Herausforderung an. Sie lächelte ihm breit ins Gesicht. Sie würden sehen, wer aus dieser Nacht als Sieger hervorgehen würde und wer als Verlierer.
Kilian war im Begriff, zum Theater zurückzukehren, als Heinlein und sein Kollege Klaus mit Raimondi den Bühneneingang betraten. Er drehte sich weg und vermied so eine Konfrontation. Kilian sah, wie zahlreiche Musiker eintrafen und dass Franziska ihnen folgte. Und da war auch der japanische
Don Giovanni
, Takahashi. Trafen sich alle zu einer letzten Probe?, fragte er sich. Kilian würde abwarten und beobachten. Mehr konnte er nicht tun.
Kilian hatte den Nachmittag im Choko Chanel verbracht. Dort konnte er von weitem verfolgen, wer das Theater betrat und verließ. Alle wirkten auf den ersten Blick unauffällig, gar nicht so, wie es Kilian erwartet hätte, wenn der Rausch einer Premiere bevorstand. Es kam der Stille eines sich anbahnenden Unwetters gleich, wenn sich in der Luft Spannung aufbaute, die sich bei Erreichen des kritischen Punktes in Blitz und Donner entladen würde. Doch so weit war es noch nicht.
Nachdem die Musiker, Takahashi, Franziska und Raimondi nach zwei Stunden das Haus wieder verlassen hatten, um sich auf die Vorstellung vorzubereiten, kehrte Ruhe ein. Doch einer fehlte heute. Wo war der Generalmusikdirektor Stiller? Kilian hatte ihn weder das Haus betreten noch verlassen sehen.
Am Pförtner und an Jeannes verwaistem Inspizientenplatz vorbei betrat Kilian den Großen Saal. Bis auf eine Hand voll Techniker, die die letzten Arbeiten verrichteten, waren der Zuschauerraum und die Bühne leer. Er setzte sich auf den Rand des Orchestergrabens und ließ die Stimmung auf sich wirken. Danach würde er sich noch eine Stunde aufs Ohr legen, damit er für den
Weitere Kostenlose Bücher