Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
damit Erfolg. Die Premiere des
Don Giovanni
war im Zuschauerraum aufs prominenteste besetzt. Im Orchestergraben jedoch fehlte noch der wichtigste Mann.
»Verdammt, wo bleibt er denn?«, fluchte Jeanne still in sich hinein. Sie betätigte das Mikro und rief Stiller nochmals auf, zur Bühne zu kommen. Es war neunzehn Uhr neunundzwanzig. In einer Minute würde die Live-Übertragung aus dem Mainfrankentheater auf Sendung gehen. Die Moderatorin atmete tief durch und sammelte sich.
Kilian überkam eine seltsame Ahnung. Er ging einen Schritt zur Seite, beugte sich hinab und schaute hinüber zum Souffleurkasten. Er sah nicht viel von Franziska, nur Hände und einen Teil ihres Gesichtes. Aber sie war da, auf ihrem Posten.
Der ZDF-Mann zählte die Sekunden rückwärts.
»Drei, zwei, eins.« Die Null war stumm. Mit einer Handbewegung gab er den Weg frei. Eine neue Lichtatmosphäre wurde von Jeanne über das Mikro an die Kollegen eingefordert. Das Licht im Saal ging aus, ein Spot wurde auf die Bühne gerichtet. Die Moderatorin ging hinaus, trat vor den Vorhang. Applaus begleitete sie, der schließlich langsam verebbte.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, mesdames et messieurs«, begann sie, »ich begrüße Sie und das Publikum zu Hause an den Bildschirmen aus dem Mainfrankentheater in Würzburg auf das herzlichste zur Premiere des
Don Giovanni
, Mozarts wohl bekanntester, aber zu seiner Zeit auch umstrittenster Oper. Der heutige Abend ist ein ganz besonderer, in vielerlei Hinsicht. Als erste Kooperation der beiden Kultursender 3sat und arte übertragen wir die Oper in insgesamt vier Länder und erreichen damit weit über einhundert Millionen Menschen …«
Applaus unterstrich die Ankündigung. Währenddessen wurde Jeanne immer nervöser. Ihre Durchsage an den Verschollenen: »Herr Stiller, bitte auf die Bühne. Herr Stiller, bitte!«
»Bin schon da«, antwortete er für alle überraschend. Wie aus dem Nichts war er hinter Jeanne aufgetaucht. In Frack und Fliege festlich gekleidet, führte er in der Hand seinen Dirigentenstab mit sich.
»… das Mainfrankentheater, an dem schon der Teufelsgeiger Paganini gespielt und Richard Wagner gearbeitet hat und das jetzt in eine bedauerliche Krise geraten ist. Wir wünschen dem Haus und seinen Mitarbeitern viel Glück für die Zukunft. Vielleicht ist es auch noch nicht zu spät, und der Freistaat Bayern entschließt sich, dieses geschichtsreiche Haus zu retten …«
Aufmunternder Applaus unterbrach. Der Ministerpräsident lächelte gezwungen.
In der Nullgasse kam Unruhe auf. Zum wiederholten Mal forderte Jeanne über die Lautsprecheranlage Takahashi auf, zur Bühne zu kommen. Roman, der Leporello, war bereits da. Leise schnurrte ihr Telefon. Der Anruf kam aus der Maske. Sie nahm ab und wurde mit einer Veränderung in der Besetzung des heutigen Abends konfrontiert.
»… und dies unter der musikalischen Leitung von Beat Stiller, einem der jetzt schon Großen am Dirigentenpult.«
Applaus.
»Zu unser aller Freude wird das Stück von einem seit Jahren gefeierten Künstler inszeniert. Meine Damen und Herren, der
Don Giovanni
in persona, Francesco Raimondi!«
Applaus. Der kleine Empfänger am Ohr der Moderatorin meldete sich. Die Regie gab eine Information an sie weiter. Ihre Miene verfinsterte sich für einen Moment, ein gequältes Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch dann strahlte sie und nickte ihrem Regisseur zu.
»Meine Damen und Herren, wie ich soeben erfahre, ist der Darsteller des
Don Giovanni
kurzfristig erkrankt …«
Ein Raunen ging durch die Reihen.
»Ich darf Ihnen aber einen mehr als adäquaten Ersatz ankündigen. Was sage ich … Sie werden mit mir übereinstimmen, dass niemand mehr für die Rolle des
Don Giovanni
geschaffen ist als er … Francesco Raimondi.«
Anfängliches Staunen, dann begeisterter Applaus. Kilian war nicht der Einzige, der hinter und neben der Bühne die Sprache verloren hatte. Was war passiert? Wieso sang Takahashi den
Don Giovanni
nicht? Er hatte ihn doch so gut einstudiert und auf die Bühne gebracht. Und jetzt Raimondi? Wie sollte das funktionieren?
Alle Solisten, Stiller und auch die Techniker schauten sich fragend an. Doch dafür war jetzt nicht die Zeit. Der Applaus endete, die Moderatorin trat ab, das Licht erlosch.
Auftritt Stiller. Er stieg in den Orchestergraben hinunter, ein warmer Applaus begleitete ihn bis zu seinem Pult. Er verbeugte sich vor dem Publikum und dann leicht vor seinem Orchester, nahm seinen Stab zur Hand
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