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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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eine Stunde zu
lange in der Hauptstadt aufzuhalten. Weiter nach Süden, bis es auf seiner Reise
zum zweiten Mal dunkel wurde. Er konnte den Namen des kleinen Küstenstädtchens
am Ortseingang nicht erkennen, aber das störte ihn nicht. Er war unterwegs, und
zwar in der richtigen Richtung. Wenn er aus dem Fenster der Autos sah, dann
nur, um innerlich Abschied von seiner Heimat zu nehmen, die einfach nicht genug
Platz für ihn und seinen Ziehvater bot.
    Nach einer unruhigen Nacht in einem kleinen Motel wachte er viel zu
früh auf. Über dem Horizont kündete nur ein schmaler Silberstreif von dem
nahenden Tag, einzelne Vögel sangen probeweise ein paar Takte und machten sich
für das große Konzert zum Sonnenaufgang warm. John schloss die Augen und
versuchte noch einmal einzuschlafen. Ohne Erfolg. Wenn ihn das Glück nicht
völlig verließ, dann würde er an diesem Tag seinen Bruder wiedersehen. Den
kleinen, inzwischen erwachsenen Ewan. John lächelte. Sein Bruder war bestimmt
immer noch nicht besser auf ihn zu sprechen. Kein Wunder. Er hatte sein
Versprechen, sich hin und wieder blicken zu lassen, nicht eingelöst. John, der
Unzuverlässige, der Bruder, der einfach nie da war.
    Er schlug die Augen wieder auf. Seine Nervosität machte es ihm
schlicht unmöglich einzuschlafen. Er konnte genauso einen Spaziergang machen
und ein wenig auf das Meer sehen. Ohne lange nachzudenken, stand er auf, griff
nach seiner Hose und dem Hemd und machte sich auf den Weg nach draußen. Auf der
Straße zwischen den letzten Häusern und dem Pazifik umfing ihn die perfekte
Einsamkeit. Das Rauschen des Meeres, der anschwellende Gesang der Vögel und die
verblassenden Sterne über ihm sorgten dafür, dass er sich wie einer der ersten
Menschen vorkam. Damals, als die Welt noch das unschuldige Paradies war und in
diesem Land nur ein paar Vögel zu Hause waren, die nicht einmal fliegen
konnten.
    John atmete tief durch und wandte sich zur Seite, um der Straße
entlang des Meeres zu folgen. Sie machte einen weit geschwungenen Bogen, an dessen
Ende ein paar verrostete Gleise und ein wenig bröckelnder Beton von irgendeinem
längst aufgegebenen Traum erzählten. Dann wurden die Felsbrocken größer und das
Tosen der Brecher, die an ihnen zerschellten, lauter. John setzte sich auf
einen flachen Felsbrocken und lehnte sich gegen einen zweiten, der direkt
daneben lag. Ein Weilchen sah er dem unablässigen Herannahen und Zerschellen
der gewaltigen Wellen an den vorgelagerten Brocken zu. Jeder Brecher kam ihm
wie der letzte vor, noch viel länger konnten diese Felsen doch wohl kaum dem
unablässigen Angriff standhalten. Aber es ging weiter.
    Ganz in der Nähe von seinem Aussichtsplatz konnte er in der immer
heller werdenden Morgendämmerung ein paar Robben erkennen. Sie sahen ihn mit
ihren großen, feuchten Augen an, wedelten träge mit einer Flosse und schliefen
dann wieder ein. Mit einem Mal spürte auch John, dass die letzten zwei Tage
ihren Tribut forderten. Er schloss langsam die Augen, versprach sich selbst,
dass es nur für einen ganz kurzen Moment wäre – und fuhr wieder auf, als eine
Stimme weit entfernt, fast wie in einem Traum, sang. Ein Lied wie Ebbe und
Flut, das er jetzt seit vier Jahren in seinen Träumen immer wieder hörte. Jetzt
war es so wirklich, wie es ein Lied nur sein konnte. Die gleiche helle Stimme
mit dem kehligen Unterton. Er sprang auf die Füße und sah sich um, mit einem
Schlag hellwach. Der Gesang kam näher, und noch bevor er daran zweifeln konnte,
dass es sich um die gleiche Stimme handelte, kam sie über einen Felsen
geklettert.
    John starrte sie an wie eine Vision. Seit Jahren dachte er an diese
schmale Frau mit den unbändigen Locken und dem karierten Männerhemd. Gewiss,
jetzt trug sie einen grünlichen Parka, und die Haare waren in einem dicken Zopf
gebändigt. Aber das war sein Schutzengel, die Frau, die ihn vor dem Absturz
gerettet hatte. In diesem Augenblick nahm sie ihn allerdings überhaupt nicht
wahr. Sie sang und sah dabei mit konzentriertem Blick auf die Felsen, über die
sie mit ihren nackten Füßen stieg. Hin und wieder bückte sie sich, hob etwas
aus einem der zahlreichen flachen Becken, in denen das Meerwasser sich
sammelte, und ging dann weiter.
    Sie bemerkte ihn erst, als sie fast über seine Füße stolperte.
Überrascht hob sie den Blick und sah ihn verwundert an. »Um

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