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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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diese Zeit ist hier
sonst niemand unterwegs«, erklärte sie mit ihrer melodischen Stimme, die John
unter Hunderten erkannt hätte. Das war seine Retterin!
    Â»Ich bin früh aufgewacht und wollte ein wenig am Meer sein …« John
kam sich furchtbar unbeholfen vor. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt
habe, das war nicht meine Absicht …«
    Â»Es gehört mehr dazu, mich zu erschrecken«, antwortete sie mit einem
freundlichen Lächeln. »Und diese Felsen sind ganz bestimmt nicht mein Eigentum.
Hier ist genug Platz für alle …«
    Â»Was sammelst du hier?«, wollte John wissen und sah dabei neugierig
in ihren Korb. Eigentlich wollte er nur verhindern, dass seine Entdeckung
sofort weiterzog und ihn nur mit einer weiteren Erinnerung an eine geheimnisvolle
Begegnung zurückließ.
    Â»Schnecken und Muscheln.« Sie zeigte ihm bereitwillig ihren Fang.
»Mit den richtigen Kräutern wird das heute Abend fein zu ein bisschen
Süßkartoffelbrei schmecken. Aber du bist wahrscheinlich nicht an einem Rezept
interessiert …«
    Â»Nein«, lachte John. »Ich kann nicht kochen, und im Moment habe ich
nicht einmal eine Küche. Mein einziger Beitrag zum Kochen ist mein Hunger …«
    Â»Keine Küche?« Sie sah ihn an. Täuschte er sich, oder las er etwas
wie Mitleid in ihrem Blick? »Das klingt nicht schön. Wie kann man denn ohne
eine Küche leben?«
    Â»Ich will auswandern. Meine Habseligkeiten habe ich in einen Koffer
gepackt, der Herd hat da leider nicht hineingepasst.« Er versuchte ein Lächeln,
das möglichst fröhlich wirken sollte, und hatte sofort das Gefühl, dass ihm das
gründlich misslang.
    Sie erwiderte sein Lächeln nicht und musterte ihn nur ernst. »Das
ist aber traurig. Man sollte das Land, in dem man geboren wird, nicht
verlassen. Da verliert man nur seine Verbindung zur Familie.«
    Â»Ich habe keine große Verbindung zu meiner Familie, und meine Ahnen
liegen auch nicht in Neuseeland. Da wird es mir also bestimmt leichter fallen,
meine Zelte abzubrechen«, erklärte John.
    Als Antwort erntete er ein ernstes Stirnrunzeln. »Wie kann man nur
so leben? Eine Verbindung zur Familie ist unendlich wichtig, nur so erdet man
sich im Leben. Ein Mensch ohne solche Wurzeln muss doch völlig haltlos sein,
arm und einsam. Das ist nicht richtig!«
    Wenn er sich bis jetzt nicht sicher gewesen wäre, dass diese Frau
genau dieselbe war wie vor ein paar Jahren auf der Rennbahn – diese wenigen
Sätze hätten die letzten Zweifel ausgeräumt. Dieses kompromisslose Verurteilen
einer bestimmten Lebensweise klang ihm noch von damals in den Ohren. Er hob
hilflos die Hände. »Das Leben und die eigene Familie sind nicht immer so, wie
man es sich erträumt. Manchmal ist es besser, keinen Kontakt mehr zu haben, als
einen falschen, der nur auf Lügen und Hass beruht.«
    Â»Hass muss immer von zwei Seiten kommen …«, begann die Frau mit
ernstem Gesicht. Ein lautes Atemgeräusch vom Meer her unterbrach sie. Ihre
Augen leuchteten auf, als sie sich umdrehte und nach dem Urheber des Geräusches
suchte. »Wo sind sie denn … Da! Kannst du sie auch sehen?«
    John folgte ihrem Blick und sah die hohen Schwerter von fünf oder
sechs Killerwalen ganz dicht an der Küste vorüberziehen. Mit einem Schlag
hatten sich die Robben alle auf das Festland gerettet, keiner von ihnen wollte
den schwarzweißen Walen als Frühstück dienen. Er konnte nicht glauben, dass die
großen Tiere so nah an die Küste heranschwammen – und wie riesig sie waren.
»Sie sind wunderschön!«, war das Einzige, was er herausbrachte.
    Die Frau nickte. »Ja, das sind sie. Sie kommen fast jeden Morgen
vorbei. Ich rede mir gerne ein, dass sie kommen, um meinem Gesang zu lauschen.
Ist natürlich Unsinn, sie hoffen auf eine Robbe oder einen Pinguin, der dumm
genug ist, sich von ihnen fangen zu lassen. Trotzdem … ich sehe in ihnen fast
meine Freunde.«
    Â»Ein Killerwal als Freund wäre wohl auch ziemlich gefährlich, oder?«,
versuchte John einen kleinen Scherz.
    Sie ging nicht darauf ein, verzog nicht einmal ihren Mund zu einem
Lächeln. »Wale können die besten Freunde sein – sie sind es zumindest für mein
Volk. Ganz besonders für mich. Ich heiße Paikea, das heißt ›Die den Wal
reitet‹. Nach einer Legende sind meine Vorfahren auf dem

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