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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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Welt stand ihm
offen. John atmete tief durch. Es gab einfach nichts mehr, was ihn hier halten
konnte. Seine Besitztümer in diesem kleinen Zimmer passten in einen Koffer –
und der musste nicht einmal besonders groß sein. Ein paar Bücher, einige
Kleidungsstücke, eine Mappe mit den Zeitungsausschnitten zu dem Mord innerhalb
der Milkbar-Gang. Ihm war nicht klar, warum er sie noch nicht weggeschmissen
hatte. Aber sie kamen ihm wohl so vor wie eine ständige Mahnung, wie viel Glück
er in seinem Leben gehabt hatte. Diese Ausschnitte und seine schiefe Nase
erinnerten ihn an so manches …
    Doch bevor er Neuseeland für immer den Rücken kehrte, hatte er noch
ein Ziel. Er musste sich von seinem kleinen Bruder verabschieden. Ihm das
geliehene Geld endlich wiedergeben. Das letzte Treffen war fast fünf Jahre her,
die Arbeit bei Turners & Growers hatte dafür gesorgt, dass John keine Zeit
für einen Ausflug auf die Südinsel gefunden hatte. Außerdem hatte er sich immer
vorgestellt, wie er dereinst als gemachter Mann zu seinem Bruder kommen würde.
Mit einem schicken Auto, einem teuren Anzug und vielleicht sogar mit einer
eleganten Frau am Arm. Aber leider waren diese Wünsche in den letzten Jahren
nur Träume geblieben. Jason Turner hatte ihm zwar immer eine Gehaltserhöhung in
Aussicht gestellt – aber dieses Versprechen dann nie eingelöst. Trotzdem:
Einmal noch wollte er Ewan in den Arm schließen – und sich dann endgültig von
ihm und dem Leben in Neuseeland verabschieden. Mit diesem Land waren einfach zu
viele schlechte Erinnerungen für ihn verbunden.
    Immerhin hatte er dieses Mal einiges gespart, er konnte sich eine
Reise mit dem Zug nach Wellington leisten – und musste sich dann auch nicht
mehr als zweiter Passagier eines Lastwagens auf die Fähre schmuggeln.
Entschlossen legte er seinen Koffer auf das Bett und fing an, seine wenigen Habseligkeiten
einzupacken.
    Kaum hatte er den Bahnhof erreicht, machten sich auch schon die
Erinnerungen breit. Damals, als er den Bahnhof das erste Mal betreten hatte,
war die Frau seines Lebens an seiner Seite gewesen. In einem gelben
Sommerkleid, das so herrlich frei um ihre Beine schwang. Sie hatte sich gut
gefühlt, hatte gelacht, an eine Zukunft geglaubt. Und dann war alles vernichtet
worden durch eine Laune der Natur, einen Berg, der keine Ruhe fand. John
spürte, wie die Innenfläche seiner Hände schweißnass und sein Atem flacher
wurde.
    Â»Sie wünschen?« Die Frau hinter dem Schalter sah ihn aufmerksam an.
»Wohin soll die Fahrt denn gehen, Sir?«
    Â»Ich …« John machte einen Schritt nach hinten. Rempelte dabei die
Frau in der langen Schlange der ungeduldig Wartenden hinter ihm an. »Entschuldigen
Sie!«, rief er fahrig aus, bevor er sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen,
umdrehte und aus dem Bahnhof rannte. Er konnte nicht mit dem Zug fahren. In
seinen Ohren kreischten die Bremsen, als sei es erst gestern geschehen. Er
hörte wieder die Schreie der Menschen, die die Tür nicht öffnen konnten. Und
sah Inge vor sich, die so friedlich aussah – nur ein Fingernagel war
abgebrochen.
    John merkte nicht, dass ihm die Tränen über das Gesicht liefen, als
er auf die Straße stürzte. Er ging einfach weiter, bis er einen kleinen Platz
erreichte und sich schwer auf eine Bank fallen ließ. Es verging fast eine halbe
Stunde, bis sein Atem allmählich wieder ruhiger wurde und die schrecklichen
Bilder in seinem Kopf verblassten. Dann atmete er tief durch und griff nach
seinem Koffer. Mit dem Zug wollte er nicht fahren, das war ihm jetzt klar. Er
würde also wieder eine Reise als Anhalter machen, angewiesen auf die Gnade
seiner Mitmenschen. Ihm erschien das trotzdem eine sehr viel bessere Wahl. So
würden ihn wenigstens nicht Erinnerungen quälen, die er am liebsten für immer
aus seinem Gedächtnis vertreiben wollte.
    Sein gepflegtes Aussehen und der einfache Koffer sorgten dafür, dass
er sehr viel schneller als noch ein paar Jahre zuvor willige Autofahrer fand,
die ihn ein paar Kilometer mitnahmen. Immer Richtung Süden ging seine Reise,
auf der Ladefläche von klapprigen Pick-ups, auf der Rückbank mit lärmenden
Kindern oder als Beifahrer von Vertretern, die in ihm das perfekte Unterhaltungsprogramm
für ihre Reise sahen. Er übernachtete in einem einfachen Motel, setzte
irgendwann von Wellington nach Picton über, ohne sich auch nur

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