Der Gesang der Maori
Arbeiterin
ging ihm nicht aus dem Sinn, er summte sie immer wieder vor sich hin, ohne zu
begreifen, um was es da eigentlich ging. Nur die Worte der Arbeiterin, die standen
kristallklar vor ihm. Hatte er in der letzten Nacht wirklich seinen Körper
entweiht? Das Andenken an Inge beschmutzt? War er gerade im Begriff, sein
ganzes Leben wegzuwerfen? Auf dem langen Weg zum Hafen konnte er die Gedanken
nicht mehr wegschieben. Was, wenn sie recht hatte?
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er endlich das Schloss zu
seinerWohnung öffnete und über die Schwelle trat. Mit einer Sache war er sich
absolut sicher: Er wollte heute nicht in die Milkbar. Stattdessen musste er
duschen. Und dann ein wenig nachdenken. Ãber das Lied und die Worte dieser
Frau. Sein zerrissenes Hemd warf er in den Abfall, seine Hose sollte nach einer
gründlichen Reinigung wieder zu verwenden sein.
Als er endlich das heiÃe Wasser der Dusche auf seinem Körper spürte,
schloss er für einen Moment die Augen. Es kam ihm vor, als ob der gesamte
Schmutz der vergangenen Nacht im Abfluss landete. Während er sich mit seinem
rauen, alten Handtuch trocken rieb, sah er sich im Spiegel genauer an. Die
kurzen Haare mit der Tolle, die leicht schiefe Nase, die ihn an seine Reise
nach Deutschland erinnerte. Unter den Augen tiefe Schatten, Bartstoppeln und
sehr viel weniger Muskeln als in seiner Zeit als Heizer auf dem Frachter seines
Ziehvaters. Er seufzte. Wenn die Frau recht hatte und er seinem Körper
Schlimmes antat, ihn entweihte, dann tat er das wenigstens gründlich. Seine
graue Gesichtsfarbe zeigte darüber hinaus, dass er zu viel in der Nacht unterwegs
war. Und zu viel Alkohol trank. Völlig unbekleidet legte er sich danach in sein
Bett, wo ihn ein tiefer Schlaf übermannte.
Es war früher Abend, als er wieder erwachte. Vor ihm lagen ein paar
leere und öde Stunden â es dauerte nur wenige Minuten, bis er der Macht der
Gewohnheit folgte, aufstand und Augenblicke später in Richtung Queen Street
aufbrach. Aus einer Laune heraus verzichtete er allerdings dieses Mal auf die
Brillantine im Haar und lieà seine Lederjacke zu Hause. Es fühlte sich anders
an als in den Tagen vorher, als er die halbe Stunde Wegstrecke bis zur Milkbar
zurücklegte. Seine FüÃe bewegten sich automatisch, während er weiter seinen
Gedanken nachhing. Was erwartete ihn heute Abend? Ein Wiedersehen mit Maureen?
Was sollte er nur sagen? Eine Entschuldigung war wohl unangebracht, immerhin
war sie ja diejenige gewesen, die ihn unter die Tribüne gezogen hatte. Er hatte
nicht einmal geahnt, dass man dort einen geschützten Ort fand.
Schon von ferne sah er das groÃe, hell erleuchtete Fenster der Bar.
Langsam ging er näher. Das übliche Bild. Maureen, die dieses Mal ihren Arm um
Stuart gelegt hatte. Ihr Opfer, wenn John gerade nicht greifbar war. An der Bar
Frederick und Sharon. Sie stritten. Ihre Haare sahen wie ein wilder,
ungezähmter Busch aus, seine Augen funkelten, und die Hand auf der Bar war so
fest geballt, dass die Knöchel weià durchschienen. Ãberall Bierflaschen, die
meisten schon leer. John wurde es an diesem Abend schon beim Anblick von
Alkohol übel. Er schluckte, schüttelte leise den Kopf und beschloss zu gehen.
Wenn er ein weiteres Jahr mit diesen Menschen verbrachte, dann würde er nur
noch sein wie sie: mit einem frühzeitig gealterten Körper und ständig auf der
verzweifelten Suche nach noch mehr SpaÃ, nach irgendetwas, das sich wie das
richtige Leben anfühlte.
Er drehte sich um, fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und
schlenderte langsam in Richtung Hafen. Es war einfach noch zu früh, um direkt
in seine winzige Wohnung zurückzugehen. Lachende Menschen auf dem Weg in ein
Restaurant oder ins Kino kamen an ihm vorbei. Sie wirkten allesamt glücklich
und zufrieden. Oder zumindest nicht einsam.
Als John den Pier erreichte, sah er ein Weilchen auf das Wasser, das
träge gegen die Kaimauer schlug. Sein ganzes Leben hatte er am oder auf dem
Wasser verbracht, er sollte hier wieder nach einer Aufgabe suchen. Vielleicht
etwas Sinnvolleres, als Lammhälften zu stapeln. Er schloss die Augen, lauschte
den leisen Wellen und sah seine Mutter vor sich. Wie stolz sie ihre Tochter angesehen
hatte! Wenn sie ihn gestern Abend gesehen hätte, dann hätte sie sich genauso
angeekelt abgewandt wie diese junge Maori am Morgen. Er war einfach niemand,
auf den man stolz
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