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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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sein konnte. Die Mutter in seiner Phantasie lächelte ihm zu
und verschwand. An ihre Stelle trat Inge. Sie musterte ihn mit diesem
spöttischen Blick, den er an ihr so geliebt hatte. Er konnte fast hören, wie
sie sagte: Und das ist alles, was du mit deinem Leben vorhast? Saufen und
Tanzen? Ich bin beeindruckt … Dann kam dieses kleine, kehlige Lachen, mit dem
sie sich über alles und jeden lustig gemacht hatte.
    Langsam öffnete er die Augen und sah sich um. Neuseelands Wirtschaft
gehörte zu den stärksten der Welt, hier am Hafen wurden jeden Tag Tausende von
Gütern in alle Welt versandt. Ein kleines Bürohaus war im Erdgeschoss noch hell
erleuchtet, das Schild verriet den Namen der Firma: Turners & Growers.
Entschlossen ging John hin, klopfte an und drückte die Tür auf. Ein junger Mann
in seinem Alter saß an seinem Schreibtisch und sah ihn überrascht an. »Sie
wünschen? So spät am Abend haben wir keine Bürostunden mehr, tut mir leid …«
    Â»Ich werde Ihre Zeit nicht über Gebühr beanspruchen, keine Sorge«,
beschwichtigte John ihn. »Ich habe nur gesehen, dass hier noch Licht brennt, da
wollte ich keinen Tag mehr verschwenden, um nachzufragen, ob Sie vielleicht
einen Job haben. Ich kann alles – Lagerung, Planung …«
    Das Gesicht des jungen Mannes verriet Neugierde. »Sie kennen sich
mit Früchten aus? Damit handeln wir, dafür benötige ich in der Tat einen Mann.
Ist ja schwierig, jemanden zu finden, heutzutage. Was haben Sie denn bisher
gemacht?«
    John bemühte sich um ein gelassenes Gesicht. Er wollte sein neues
Leben trotzdem nicht gleich mit einer Lüge anfangen. »Ich habe mich im letzten
Jahr nur mit kleinen Jobs über Wasser gehalten – vieles hier im Hafen als
Hilfsarbeiter im Lager. Da habe ich so einiges mitgekriegt. Davor war ich auf
Frachtern unterwegs, als Heizer und als Schmierer. Aber jetzt habe ich
beschlossen, dass ich etwas Beständigeres finden muss. Das unsichere Leben
gefällt mir nicht mehr.«
    Der Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß, bevor er langsam nickte.
»Ich gebe dir eine Chance. Aber wehe, du kommst zu spät oder betrunken zur
Arbeit. Das wäre dein letzter Arbeitstag, ist das klar?« Er streckte ihm die
Hand entgegen. »Ich bin Jason Turner, der Juniorchef. Willkommen in unserer Firma!«
    John nahm dankbar die angebotene Hand und schüttelte sie. »Danke.
Ich werde Sie nicht enttäuschen. Mein Name ist John Erhardt. Um wie viel Uhr
soll ich morgen hier sein?«
    Â»Um sechs Uhr ist bei uns Arbeitsbeginn!« Jason Turner sah auf die
Uhr und gähnte. »Das bedeutet, es ist höchste Zeit, dass wir gehen. Sonst lohnt
sich das Bett überhaupt nicht mehr.« Er räumte seine Papiere auf einen
ordentlichen Stapel, schaltete das Licht aus und verließ gemeinsam mit John das
Büro. Sie verabschiedeten sich vor der Tür und verschwanden in unterschiedlichen
Richtungen in der Dunkelheit.
    John lief langsam durch die dunklen Straßen zu seiner Wohnung. Leise
summte er das Lied der Maori vor sich hin. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm
damit einen Einstieg in ein besseres Leben möglich gemacht hatte. An diesem
Abend ging er das erste Mal seit einer Ewigkeit nicht betrunken und übermüdet
ins Bett. Dieses Mal war er voller Hoffnung – und völlig nüchtern. Er stellte
seinen Wecker und fiel in einen tiefen Schlaf, in dem er immer wieder das Lied
hörte. In seinem Traum sah ihn die Maori allerdings nicht verächtlich an,
sondern lächelte ihm zu. So, als ob sie ein gemeinsames Geheimnis hätten.
    Â 
    Der Wecker unterbrach
seinen Schlaf mit schrillem Gebimmel. John war das egal: Heute war der erste
Tag seines neuen Lebens. Er zog Jeans und ein einfaches Hemd an, strich die
Haare mit seinen nassen Händen zurück und verzichtete auf die Brillantine, die
er in letzter Zeit überreichlich benutzt hatte. Er hatte sich den Wecker sogar
so rechtzeitig gestellt, dass er sich frisch rasieren konnte. Und statt der
schicken, spitzen Schuhe zog er lieber die festen Arbeitsschuhe an, die ihn
bereits nach Deutschland und zurück begleitet hatten. Pfeifend machte er sich
auf den Weg, meldete sich bei Jason Turner und bekam seine Aufgabe zugewiesen:
Er sollte Kisten mit Äpfeln überprüfen – wenn das Obst zu reif war, dann würde
es auch gekühlt keinen Transport nach England mehr überstehen. Gut gelaunt
machte

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