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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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sechs Tiere im Jahr. Nicht wie die Männer auf ihren großen Schiffen, die Wale in Massen abschlachteten, bis es kaum noch welche gab.« Er zeigte auf die Karte an der Wand: »Komm, ich zeige dir mal was.«
    Ich folgte ihm zur Karte. Darauf war der nördliche Teil der Olympic-Halbinsel zu sehen. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr Javid eine dicke rote Linie nach, die Neah Bay und ein riesiges Gebiet drum herum kennzeichnete. »Das alles gehörte mal uns, den Makah. Aber 1855 schlossen wir einen Vertrag mit der weißen Regierung und mussten den größten Teil unseres Landes abgeben.«
    Was er mir zeigte, war viermal so viel wie das, was heute übrig geblieben war. »So viel?«, fragte ich erstaunt. »Weshalb haben die Makah das getan?«
    Â»Ganz einfach. Weil das Meer wertvoller für uns war als das Land. In diesem Vertrag erhielten wir dafür die uneingeschränkten Fangrechte vor unserer Küste. Das galt auch für Wale. Trotzdem haben wir aufgehört Grauwale zu jagen, noch bevor man sie auf die Liste der bedrohten Tierarten setzte. Aber nun gibt es wieder mehr als zwanzigtausend. Und der Vertrag ist immer noch gültig. Deshalb hat unser Stamm sein Recht auf die Waljagd eingeklagt und gewonnen.« Er warf mir einen eindringlichen Blick zu. »Du isst doch auch Fleisch, oder?«
    Ich drehte und wendete den hölzernen Orca verlegen in meinen Händen. »Ja, schon, aber …«
    Â»Kein aber«, unterbrach mich Javid ungeduldig. Sein Blick verdunkelte sich. »Es ist das Fleisch eines Tieres, Copper. Wie Huhn, Schwein oder Ochse.«
    Ich brauchte einen Moment, um das, was er gesagt hatte, zu überdenken. Es überzeugte mich nicht, denn ich fand, dass man einen Wal nicht mit einem Huhn gleichsetzen konnte. Aber ich spürte, dass Javid mich testete, und wollte nicht schon am ersten Tag durchfallen.
    Vielleicht lag unsere unterschiedliche Auffassung wirklich an der einfachen Tatsache, dass ich keine Makah war. In diesem Augenblick fragte ich mich, ob es für Javid Ahdunko von Bedeutung war, dass ich eine andere Hautfarbe hatte als er.
    Â»Wir Makah verehren den Wal«, erklärte er mir. »Und bevor wir ihn jagen, müssen wir uns seiner würdig erweisen.« Seltsam resigniert schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, es muss noch eine Menge passieren, bevor wir wieder stolz auf uns sein können. Ein paar von uns versuchen schlauer zu sein als unsere Vorfahren, aber wir dürfen nicht vergessen, woher unsere Stärke kommt. Manchmal ist es wirklich nicht leicht, Indianer zu sein.«
    Ich hob den Blick, um ihn anzusehen. »Wie meinst du das? Kannst du mir das genauer erklären?« Ich hätte ihm stundenlang Fragen stellen und zuhören können.
    Er schüttelte den Kopf und setzte sich zurück auf seinen Stuhl. »Ich weiß nicht, ob du es verstehen würdest, Copper. Ich verstehe es ja manchmal selbst nicht.«
    Javid hatte die Hände auf seine Oberschenkel gestützt und ich konnte die langen Muskelstränge und die blauen Adern unter seiner mattbraunen Haut sehen. Er hatte schöne Hände, lange, kräftige Finger mit hellen Fingernägeln. Ich ertappte mich bei der Frage, wie es wäre, von diesen Händen berührt zu werden, überall. Bei diesem Gedanken durchrieselte mich Wärme. Vermutlich wurde ich auch rot, aber er konnte ja nicht wissen, warum.
    Javids lange Haare lagen jetzt offen auf seinem Rücken, wo sie sich wellten, weil er sie den ganzen Tag zu einem Zopf geflochten getragen hatte. Ich hätte sie gerne berührt, um zu wissen, wie sie sich anfühlten.
    Schon begann die Stille unangenehm zu werden, als er unvermittelt fragte: »Wie alt bist du eigentlich, Copper?«
    Â»Fünfzehn«, antwortete ich. »Und du?«
    Â»Was glaubst du denn?« Er grinste breit.
    Ich hielt wenig von solchen dämlichen Ratespielen, aber ich war Gast in Javids Zimmer und wollte ihn nicht verärgern. Achselzuckend sagte ich: »Achtzehn vielleicht.«
    Â»Sehe ich wirklich schon so alt aus?« Bekümmert sah er mich an. Ich verdrehte die Augen und Javid sagte: »Ich bin sechzehn. Aber manchmal komme ich mir vor, als wäre ich schon 40.«
    Ich dachte, dass er viel reifer wirkte als die sechzehnjährigen Jungs an meiner Schule, und fragte mich, ob das was mit dem Indianer-Sein zu tun hatte.
    Â»Woher willst du wissen, wie es ist, 40 zu sein?«
    Â»Ich sehe meine

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