Der Gesang der Orcas
Einkauf und lächelte kopfschüttelnd. »Du hast Recht. Aber Hunger habe ich trotzdem.« Er ging zum Fenster, die rechte Hand auf seiner geschwollenen Wange. »Ich glaube, das Wetter hat sich ein bisschen gebessert. Hast du Lust, noch etwas herumzufahren und die Gegend zu erkunden?«
»Heute nicht mehr«, antwortete ich seufzend. »Ich bin ganz nass und will erst einmal duschen. Mir ist kalt.«
Er sah mich an. »Siehst wirklich ein bisschen erfroren aus. Werde nur nicht krank.«
»Hab ich nicht vor.«
»Okay«, meinte Papa kurz entschlossen. »Dann fahre ich noch mal alleine los.« Er sah wieder aus dem Fenster. »Die Stimmung ist verrückt, sieh dir die Farben an. Vielleicht kann ich ein paar gute Fotos machen. Und vielleicht bekomme ich ja irgendwo eine Mahlzeit, die nicht gekaut werden muss.«
»Im Supermarkt gibt es prima Muschelsuppe«, sagte ich. »Die kann ich dir empfehlen.«
»Erzähl mir nicht, dass du Muscheln gegessen hast?« Papa runzelte verwundert die Stirn.
Immerhin, er wusste also doch etwas über mich. »Ja«, sagte ich, »stell dir vor.« Ich schnappte mir einen Apfel und ein, zwei Müsliriegel, wünschte ihm viel Spaà und verschwand in meinem Zimmer.
Ich war froh endlich die Regenjacke und meine nasse Hose loszuwerden, die beide nach Fisch rochen. Diesen Fischgeruch würde ich vermutlich so lange nicht loswerden, wie wir hier in Neah Bay waren. Fischindianer, hatte mein Vater die Makah genannt. Auch Javid war ein Fischindianer.
Ich duschte ausgiebig und zog frische Sachen an: meine weiten graugrünen Hosen mit den vielen ReiÃverschlüssen und Taschen und das einzige enge T-Shirt, das ich besaÃ. Eswar schwarz und langärmlig und ich hatte es noch nicht oft getragen.
Mit kritischem Blick befragte ich den groÃen Spiegel in meinem Zimmer. Er war dunkel angelaufen und hatte schwarze Flecken und Risse dort, wo die Silberbeschichtung abgeblättert war. Aber das Spiegelbild schmeichelte mir. Während ich mein Haar bürstete, dachte ich daran, was Javid mir von der Kupferfrau erzählt hatte. Ich fragte mich, ob er an solche Geschichten glaubte. Er machte auf mich einen ziemlich pfiffigen Eindruck und möglicherweise kannte er ja viele derartige Geschichten â jeweils eine passend zu jeder Gelegenheit. Aber vielleicht lieÃen sich Makah-Mädchen von Makah-Geschichten auch nicht so schnell beeindrucken, wie ich es heute getan hatte.
Natürlich war ich neugierig auf Javids Zimmer und hätte gern gewusst, ob er noch an seine Einladung dachte. Nachdem Papa losgefahren war, ging ich nach unten, nahm all meinen Mut zusammen und klopfte.
6. Kapitel
K omm rein!«, hörte ich ihn sagen. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schob mich hinein. Javids Reich war eines der gröÃeren Motelzimmer mit zwei Fenstern auf der Türseite. Die Wände waren mit hellen Holzbrettern verkleidet, die viele dunkle Astansätze hatten. Wahrscheinlich war das Holz deshalb preiswerter gewesen. Ãberall im Raum hingen bemalte Masken mit Furcht erregenden Gesichtern und irgendwelche Fetische aus Federn, Muscheln und bemalten Holzstücken.
Ein Holzregal, das die ganze linke Wand einnahm, war voll gestopft mit Büchern und diversen Gegenständen, die alle sehr alt zu sein schienen: Da war ein mit Schnitzereien verziertes Zedernholzkästchen, eine Rassel aus einem Schildkrötenpanzer und kleine Schalen aus Holz, die verschiedene Tierfiguren darstellten.
Eine verblichene Landkarte war mit ReiÃzwecken an die hintere Wand gepinnt. Auf derselben Seite stand Javids Bett, über dem er eine gewebte Decke mit langen Fransen angebracht hatte. Die eingearbeiteten Muster erinnerten mich an Augen, aber als ich länger hinsah, entdeckte ich einen Orca.
»Die ist mächtig alt«, sagte er. »Eine echte Chilkatdecke aus Hundehaaren. Ich habe sie von meiner GroÃmutter bekommen.«
Tatsächlich kam ich mir vor wie in einem Museum, wäre da nicht Javid gewesen, der an einem rohen Holztisch unter den beiden Fenstern saà und mit seltsam geformten Werkzeugen schnitzte. Er lächelte mich an, etwas zu siegesgewiss, wie ich fand, unterbrach seine Arbeit aber nicht. Span für Span flog von dem Holz unter seinen Händen.
Ich trat näher und fragte: »Was soll das werden?«
Javid hielt mir seine Arbeit entgegen: »Wenn du es nicht erkennst, Copper, bin ich ein schlechter
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