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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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hinein, mit Bäumen, die so hoch waren, dass sie den Himmel aussperrten. An ihren dunklen Zweigen hingen graugrüne Flechten wie die langen Bärte alter Männer. Abgestorbene Bäume waren umgestürzt und liegen geblieben. Nur den Weg hatte jemand freigesägt. Nachdem wir ein Stück gegangen waren, begann ein Plankenweg aus Zedernholz, der uns sicher über Wurzeln, verrottende Stämme und sumpfige schwarze Löcher führte. Unsere Schritte klackten laut auf den hölzernen Bohlen, aber das Dickicht verschluckte die Geräusche sofort. Irgendwo im Dämmerlicht des verschlungenen Waldes krächzte ein Vogel.
    Javid lief mit schnellen Schritten und er hielt immer noch meine Hand. Er hielt sie sehr fest, sonst hätte ich ihn aus Verlegenheit längst losgelassen. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich um. So schnell konnte ich nicht bremsen und prallte gegen seine Brust. Er umfing mich mit seinen Armen und gab mir einen Kuss.
    Ich war so überrumpelt, dass ich vor Schreck einen kläglichen Laut ausstieß und versuchte ihn von mir wegzudrücken. Noch nie hatte ein Junge versucht mich zu küssen! Als es jetzt so unerwartet passierte, brachte es mich vollkommen durcheinander. Mein Herz schlug wild und ich dachte daran, fortzulaufen. Nur wohin?
    Javid musterte mich mit einem seltsamen Blick. »Du hast ja Angst, Copper«, sagte er. »Das musst du nicht.«
    Â»War das die Überraschung?«, fragte ich. Meine Stimme klang rau und fremd.
    Er rückte ein Stück von mir ab.»Nein, das war nicht die Überraschung, auch wenn es uns vielleicht beide überrascht hat.« Wieder sah er mich an, als suche er in meinem Gesicht nach einer Antwort auf etwas, das er gerne gewusst hätte. »Bist du jetzt sauer? Möchtest du umkehren?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Â»Na, dann komm weiter. Es ist schon spät.«
    Nach einem zehnminütigen Fußmarsch über den Plankensteg, durch einen immer dunkler und unheimlicher werdenden Wald, in dem es pausenlos von oben tropfte, lichtete sich das Dach der Bäume und wir kamen ans Kap. Verschiedene Plattformen mit stabilen Geländern boten einen Ausblick über die Klippen. Eine halbe Meile vor uns lag die Leuchtturminsel Tatoosh Island, an der wir heute Vormittag mit Henry Soones Boot vorbeigefahren waren. Dahinter sank eine glutrote Sonne ins Meer. Wie gebannt starrte ich auf dieses Schauspiel der Farben: die vom Abendlicht beleuchteten Felsen, das schiefergraue Meer und dieser unglaubliche Himmel, dessen Rot jetzt immer mehr zu einem warmen Orange wurde.
    Die Sonne sank plötzlich schnell, schon war sie zur Hälfte hinter der Insel verschwunden. Nun verstand ich Javids Eile. Er hatte genau gewusst, wann die Sonne untergehen würde. Javid Ahdunko lebte im Rhythmus dieser Erde. Mit den Gezeiten, den Sonnenauf- und -untergängen und der Wanderung des Mondes. Die Gewissheit, dass er noch die Zeit gehabt hatte, mich zu küssen, war in seinem Blut gewesen. Der Gedanke an den geraubten Kuss ließ mein Herz wieder schneller schlagen. Würde Javid es noch mal versuchen? Hatte er mich nur aus diesem Grund hierher gelockt?
    Der Wald hinter uns wurde zu einem lautlosen schwarzen Ungeheuer. Unter uns schlug das Meer seine Wellen kraftvoll gegen die aus dem Wasser ragenden Felsen. Die Gischt leuchtete weiß.Dies war ein magischer Ort und die Farben wandelten sich mit überraschender Geschwindigkeit. Sie hatten ihre eigene Mystik, ihre eigenen Gesetze. Schon war der Himmel dunkelgelb. Wie Honig.
    Â»Danke, dass du mich hergeführt hast«, sagte ich leise, als die Sonne hinter dem Leuchtturm verschwunden war und nur noch ihr Schein den abendlichen Himmel matt erhellte. Ein schwarzer Wolkenstrich hing tief am Horizont.
    Â»War das besser als mein Kuss?«
    Ich sagte nichts.
    Â»Warum hattest du Angst?«, fragte er.
    Â»Hatte ich gar nicht«, erwiderte ich trotzig.
    Javid schüttelte unmerklich den Kopf. »Es war dein erster Kuss, nicht wahr?«
    Wieder schwieg ich. Das ging ihn gar nichts an.
    Â»Das dachte ich mir schon«, brummelte er. Mein Schweigen war ihm wohl Antwort genug.
    Ich starrte hinunter ins schäumende Wasser, bis ich nur noch weiße Kreise vor meinen Augen sah. Es war wie ein Sog.
    Â»Alles okay?«, fragte Javid besorgt.
    Â»Was?« Aufgeschreckt sah ich ihn an.
    Â»Ob du okay bist?«
    Ich nickte abwesend.
    Â»Ist nicht gut, so ins Wasser zu starren«, meinte

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