Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
Vom Netzwerk:
er. »Es zieht einen runter.«
    Eine Weile war es still. Dann fragte ich: »Bist du oft hier oben am Kap?«
    Â»Manchmal.«
    Â»Woher hat es eigentlich seinen komischen Namen: Kap Schmeichelei?«
    Javid stand neben mir, die Ellenbogen auf das Geländer gestützt. »Man sagt, Cape Flattery habe seinen Namen von Kapitän Cook, der 1778 hier vor der Küste kreuzte und behauptete, das Kap schmeichle ihm mit der Hoffnung, dahinter die ersehnte Passage zwischen Pazifischem und Atlantischem Ozean zu finden. Seine Hoffnung wurde nicht erfüllt«, erzählte er. »Doch nach ihm kamen immer mehr Weiße. Mit ihnen kamen die Missionare, die versuchten uns unseren Glauben und unsere Traditionen zu nehmen.«
    Â»Ist es ihnen gelungen?«
    Â»Wir sind noch nicht erledigt, oder?« Fragend sah er mich an. »Zwar haben wir fünf verschiedene christliche Kirchen im Ort, aber da gehen nicht viele von uns hin. Wir Makah brauchen kein extra Haus, um darin zu beten. Es gibt eine Menge heiliger Orte auf unserem Land, die dafür viel besser geeignet sind.«
    Ich glaubte ihm aufs Wort, denn wir befanden uns gerade an einem. Aber die Magie des Ortes und des Augenblickes erinnerte mich daran, dass mein Vater wenig übrig haben würde für derartige Erklärungen, denn er war ein sehr nüchterner Mensch. »Ich muss zurück ins Motel«, sagte ich, obwohl ich gerne noch ewig mit Javid hier gestanden hätte. »Mein Vater macht sich bestimmt Sorgen.«
    Â»Keine Angst, ich habe meiner Mutter gesagt, wohin wir gehen«, erwiderte er. Trotzdem machten wir uns auf den Rückweg. Die Dunkelheit im Küstenwald war dichter und undurchdringlicher geworden. Javid hatte eine kleine Taschenlampe dabei und mit Hilfe ihres dünnen Strahls fanden wir den Weg zurück zum Parkplatz. Diesmal war ich es, die Javids Hand fest umklammerte. Und ich glaube, er gefiel sich in seiner Beschützerrolle.
    Zurück fuhren wir die andere Strecke, aber auch hier holperte der Pick-up durch wassergefüllte Löcher in der Straße, bis endlich die Asphaltdecke begann. Der Rückweg erschien mir viel weiter. Als wir wieder im Ort waren, drosselte Javid das Tempo, um keinen der herumstreunenden Hunde zu überfahren. Solche Hunde gab es viele in Neah Bay. Einige gehörten jemandem, manche nicht. Sie liefen herum und bettelten nach Futter.
    Wir kamen an dem kleinen Hafenrestaurant »The Cedars« vorbei, in dem Papa und ich gestern gegessen hatten, und ich staunte, wie viele Menschen um diese Zeit auf der Straße waren. Zumeist waren es junge Leute. Sie standen in Grüppchen beieinander und rauchten oder saßen auf den Bänken am Hafen.
    Â»Jeden Abend sitzen sie dort, rauchen Joints oder betrinken sich«, sagte Javid. »Einige von ihnen sind jünger als ich. In den Ferien langweilen sie sich und wissen nichts mit sich anzufangen. Eigentlich wissen sie die meiste Zeit nichts mit sich anzufangen.« Ich hörte Zorn und Trauer in seiner Stimme mitklingen.
    Â»Vielleicht fehlt ihnen etwas«, vermutete ich. »Vielleicht fehlt ihnen die Idee, was sie mit ihrem Leben anfangen könnten.«
    Â»Ihnen fehlt die Idee von sich selbst«, brummte Javid. »Sie wissen nicht, wer sie sind, weil sie die Vergangenheit einfach vergessen haben. Lieber hängen sie herum als darauf zu hören, was die Alten ihnen zu sagen haben.«
    Â»Vielleicht denken sie, dass es ihnen in der heutigen Zeit nicht weiterhelfen kann.«
    Â»Aber das ist ein Irrtum, Copper. Ich sage ja nicht, dass wir zurückgehen sollen in graue Vorzeiten. Dass das nicht geht, weiß ich selbst. Aber wir müssen wenigstens ab und zu einen Blick zurückwerfen. Wir müssen wieder auf unsere Träume achten.«
    Vor dem Motel angekommen, stellte Javid den Motor aus. Das Licht der Straßenlaterne erleuchtete sein Gesicht, seine Augen glitzerten. Er sah mich an und fragte: »Und du? Wovon träumst du denn, Copper?«
    Das war eine schwierige Frage, denn ich hatte viele Träume. Wunschträume, Alpträume, Wachträume… In meinen Wunschträumen holte ich mir meine Mutter zurück. In meinen Alpträumen erlebte ich ihr Sterben und ihren Tod noch einmal. In den Wachträumen versuchte ich wieder glücklich zu sein. Und im selben Augenblick wurde mir klar, dass ich heute die meiste Zeit des Tages glücklich gewesen war . Ich hatte Wale gesehen und einen violetten Sonnenuntergang.

Weitere Kostenlose Bücher