Der Gesang der Orcas
dass ein falscher Tritt genügen konnte, um ihn hinabstürzen zu lassen. Und unten würde er dann auf die Felsen schlagen, die dicht unter der Wasseroberfläche ihre schroffen Spitzen zeigten. Zornig betrachtete ich die schaukelnden Arme des Seetangs im Wasser.
In diesem Moment empfand ich eine verzweifelte Wut auf meinen Vater und zur gleichen Zeit hatte ich groÃe Angst um ihn. Was, wenn ich ihn auch noch verlor? Vielleicht war er nicht mein bester Freund, aber er war mein Vater â der einzige Vater, den ich hatte. Und ich liebte ihn. Liebte ihn so, wie er war, mit all seinen Fehlern und Marotten.
Ich trat vom Geländer zurück, weil ich es nicht mehr mit ansehen konnte. Wo war sein Verantwortungsbewusstsein geblieben? Er überschätzte sich völlig und merkte es nicht. Waren ihm seine verdammten Fotos wichtiger als ich? In diesem Augenblick begriff ich, dass Erwachsensein nicht auch gleichzeitig bedeutete keine Fehler mehr zu machen.
Später saÃen wir zusammen auf einer der Holzbänke am Kap und aÃen von den Sandwichs, die Freda auf Bitten meines Vaters für uns belegt hatte. Das weiÃe Brot war weich und schmeckte süÃlich, aber das Fleisch war frisch und der Salat dazwischen noch knackig.
Ich hatte meinem Vater seinen Leichtsinn schon halb verziehen und war einfach nur froh, dass er jetzt unversehrt neben mir saÃ.Die Aufnahmen von den Papageientauchern waren im Kasten und ich hoffte für Papa, dass sie den Einsatz auch wert waren.
»Ich denke, es werden ein paar gute Aufnahmen dabei sein«, meinte er selbstzufrieden.
»Du hättest runterfallen können.«
Er blickte auf, um mich anzusehen. »Hattest du Angst?«
»Ja, zum Teufel. Ich habe nur noch dich.«
»Tut mir Leid.« Er schluckte. »Das wollte ich nicht.«
»Kommt es öfter vor, dass du dich so in Gefahr bringen musst, wenn du deine Fotos machst?«
Papa lächelte kopfschüttelnd. »Ich bin kein Kriegsberichterstatter. Ich mache ganz normale Fotos.«
»Warum lügst du, Papa? Ich bin fünfzehn und nicht blöd.«
Mein Vater rieb sich die Krümel von den Händen. »Manchmal mache ich meine Aufnahmen unter abenteuerlichen Bedingungen, das ist wahr. Es ist mein Beruf, Sofie, und ich liebe ihn.«
»Und was ist mit mir?«
»Du bist das Wichtigste.«
Ein dicker Kloà saà in meiner Kehle.
»Javid musste seiner Mutter versprechen nicht zu ertrinken wie sein Vater«, sagte ich nach einer Weile. »Versprichst du mir, dass du immer wieder zu mir zurückkommen wirst?«
»Ich verspreche es.«
Papa nahm mich in die Arme und für einen Augenblick schien die Welt in Ordnung zu sein.
»Du hast Javid Ahdunko also richtig gern«, sagte er und versuchte beiläufig zu klingen.
Trotzdem war ich wachsam. Ich traute dem Frieden nicht.
»Ich hab ihn lieb«, sagte ich. Das war die Wahrheit.
»Woran hast du eigentlich gemerkt, dass es Liebe ist?«
Woran merkt man, dass es Liebe ist? »Ich möchte immerzu bei ihm sein«, sagte ich.
Papa nestelte auf einmal nervös an der Schlaufe seiner Kameratasche herum. »Na ja«, sagte er, »ich dachte ⦠vielleicht sollten wir uns mal unterhalten, über ⦠Sex.« Er war so verlegen, dass er mir beinahe Leid tat. »Du kannst mir alles sagen, Sofie, ich meine, du kannst alles fragen ⦠alles, was du wissen willst.« Abwartend sah er mich an.
»Mach dir da mal keine Sorgen«, sagte ich. »Mama hat mir längst alles erzählt, was ich wissen muss.«
»So?« Verblüfft sah er mich an.
Ich musste lachen. »Ja, wir haben über alles geredet.«
»Sie kann dich nicht mehr beschützen«, sagte er leise.
»Nein. Du aber auch nicht, Papa.«
»Ich würde es trotzdem gern.«
»Ist Sex etwas, wovor man beschützt werden muss?«, fragte ich.
Er seufzte. »Kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Ich will nicht, dass du schmerzliche Erfahrungen machst, Sofie.«
»Ich glaube,das kannst du nicht verhindern, Papa. Aber ich werde auf dein Angebot zurückkommen, wenn ich Fragen haben sollte. AuÃerdem brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Solange Javid an seinem Kanu baut, darf er keinen Sex haben, sonst verfault das Boot.«
»Was?« Papa verschluckte sich an seinem Sandwich und hustete.
»Makah-Zauber«, erklärte ich achselzuckend. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und er
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