Der Gesang der Orcas
Stammesmitglieder betreten durften.
»Aber du gehörst doch jetzt zu mir.«
Das klang wunderbar, aber ich mochte den Grabhügel dennoch nicht besteigen und Javid akzeptierte es. Wir setzten uns auf einen Baumstamm am FuÃe des Felsens und Javid erzählte mir vom Leben der alten Makah, wie es sich vor mehr als 500 Jahren hier abgespielt hatte.
»Ãberall auf dem Strand lagen die Kanus«, sagte er. »Es waren unzählige. Manche wurden nur für den einfachen Fischfang nahe der Küste genutzt. Sie waren nicht groÃ,nur so wie meines ungefähr. Dann gab es groÃe Kanus, die für Reisen zu befreundeten Stämmen gebraucht wurden, und natürlich die Walfangkanus. Sie mussten so groà sein, dass mindestens acht Mann darin Platz hatten und auch die vielen Walfanggerätschaften untergebracht werden konnten. Seile, Harpunen und Schwimmer.« Javid gestikulierte, als wolle er mit den Händen reden. Ohne Pinsel malte er Bilder in die Luft, die vor meinen Augen Farbe bekamen und lebendig wurden, als sähe ich einen Film.
Er erzählte von Häuptlingen, denen alles gehörte, was an den Strand kam. »Das Strandrecht beinhaltete den Leichnam eines Wals genauso wie einen angespülten Baumstamm. Eine am Strand gefundene Dentaliumschnecke gehörte dem Häuptling, ebenso wie der entflohene Sklave in einem Kanu.«
Javid führte mich an die Stelle, wo die alten Zedernhäuser mit den Totempfählen gestanden hatten. »Die Bewohner von Ozette sind in der Nacht von der Schlammlawine überrascht worden«, sagte er. »Für die meisten gab es kein Entrinnen. Das halbe Dorf wurde unter einer dicken Lehmschicht begraben.«
»Das muss schrecklich gewesen sein.«
»Ja, das muss es wohl. Die Wissenschaftler haben anhand der gefundenen Stücke rekonstruieren können, wie es passiert ist. Die Schlammlawine umschloss die Häuser wie ein lautloses Ungeheuer. Es war Sisiutl, möchte ich wetten. Kinder hatten tags zuvor am Strand Fische gequält. Sie haben lebendigen Fischen den Rücken aufgeschnitten und heiÃes Ãl in ihre Wunden gegossen. Das hat den Geist des Meeres erzürnt.«
»Aber ein paar Leute müssen doch etwas gemerkt haben«, sagte ich.
»Das nehme ich an. Aber es war Nacht und alles ging sehr schnell. Diejenigen, die in ihren Häusern eingeschlossen waren, kamen nicht mehr heraus. Die Schlammmassen stiegen an und drückten gegen das Gebälk der Häuser. Die alten Langhäuser unserer Vorfahren hatten dicke Balken und hielten dem Druck lange stand.Aber dann klappten sie wie Kartenhäuser in sich zusammen. Ein Teil der Einrichtung und auch einige Menschen wurden auf das Meer hinausgeschleudert. Der Rest blieb unter einer dicken Lehmschicht begraben.«
»Was wurde aus den anderen?«, fragte ich. »Sind die Ãbriggebliebenen nach Neah Bay übergesiedelt?«
»Ja«, sagte Javid, »aber erst 400 Jahre später. 1917 gab es einen Erlass der weiÃen Regierung, dass alle Indianerkinder zur Schule gehen sollten. Die nächste Schule stand in Neah Bay. Also siedelten die Familien mit Kindern notgedrungen in den gröÃeren Ort um. Nur ein Mann blieb noch ein paar Jahre alleine hier, bis er schlieÃlich auch aufgab.«
Wir waren zurück zum Strand gelaufen, wo kaum noch etwas darauf hindeutete, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. Ranger hatten auf dem hohen Ufer ein kleines Zedernplankenhaus nachgebaut, in dem sich ein Berg Walknochen befand und eine Gedenktafel für die ehemaligen Bewohner des Dorfes angebracht war. Javid deutete auf die Knochen. »Manche sind über zweitausend Jahre alt, haben die Wissenschaftler festgestellt.«
»So alt?« Ehrfürchtig betrachtete ich die grün bemoosten Knochen.
Er nickte. »So lange leben wir Makah hier oben an der Küste und genauso lange jagen wir Wale.«
Die riesigen Knochen hatten all die Jahre hier gelegen und eine Menge gesehen. Was würden sie wohl erzählen, wenn sie sprechen könnten? Wussten sie die Wahrheit über jene Nacht von Ozette?
Javid verschwand auf einmal im angrenzenden Wald und kam mit einer Hand voll orangeroter Beeren zurück, die wie Himbeeren aussahen. »Die sind für dich«, sagte er und schob sie mir in den Mund. Sie schmeckten säuerlich und waren warm von Javids Händen. »Salmonberries«, klärte er mich auf. »Unsere Vorfahren haben sie mit Walöl
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