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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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bin dabei, es zu beenden.«
    Â»Ein junger Kanubauer bei der Arbeit«, sagte mein Vater. »Das wäre ein schönes Foto für den Bildband.«
    Javid betrachtete meinen Vater misstrauisch. »Mag schon sein. Ich will trotzdem nicht, dass jemand dieses Kanu sieht, bevor es fertig ist.«
    Â»Aber Sofie darf es sehen, sie darf dir sogar beim Bemalen helfen.«
    Tja, Papa, dachte ich, ich bin Kupferfrau. Aber davon weißt du nichts. Ich schämte mich für meinen Vater, weil er Javid so in die Enge trieb.
    Javid warf seiner Mutter einen Blick zu, in dem er sie um Verständnis bat und um ein wenig Beistand.
    Freda sagte: »Seien Sie meinem Sohn nicht böse, Mr Tanner, aber wir Makah haben da unsere Eigenheiten, die einem Fremden vielleicht bizarr erscheinen mögen. Bedrängen Sie Javid nicht, wenn er Ihnen das Kanu nicht zeigen möchte. Ich bin sicher, er hat seine Gründe dafür.«
    Â»Tut mir Leid«, sagte mein Vater, als er merkte, dass er sich falsch verhalten hatte. »Manchmal will ich es nicht wahrhaben, dass ich nicht immer alles vor meine Kamera bekommen kann, was ich mir so wünsche.«
    Javid verschwand hinter dem roten Vorhang und Lorraine wandte sich an mich. »Wir haben noch nichts gegessen, Sofie. Hast du Lust, mit uns ins Restaurant zu gehen?«
    Ich hatte mal wieder nicht ans Essen gedacht, doch nun spürte ich meinen Magen wütend knurren. »Okay«, sagte ich deshalb. »Warum nicht.«
    Wir gingen wieder in »The Cedars«, dasselbe Restaurant, in dem mein Vater und ich am ersten Tag gewesen waren. Nach einer Weile, wir hatten schon bestellt, rückte Lorraine damit heraus, dass sie heute Geburtstag hatte.
    Â»Wie alt bist du denn geworden?«, fragte ich.
    Â»Sechsunddreißig«, sagte sie. »Ganz schön alt, hmm?«
    Verdammt! Nur ein einziger idiotischer Satz konnte urplötzlich dieses hilflose Gefühl von Schmerz und Verlassenheit auslösen. Ich schluckte und Tränen schossen mir in die Augen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Bevor Papa oder Lorraine es bemerken konnten, flitzte ich nach draußen auf die Straße. Sechsunddreißig Jahre. So alt wäre Mama in einem Monat auch geworden. Ich würgte ein paar Schluchzer hinunter und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Sechsunddreißig war gar nicht alt. Mama würde nie sechsunddreißig werden.
    Regen fiel auf mein Gesicht, aber ich nahm ihn kaum wahr. Ein Indianer im elektrischen Rollstuhl kam an mir vorbeigefahren, und als ich ihm nachsah, entdeckte ich einen kleinen Hund, der unter dem Sitz des Gefährts mitlief. Auf diese Weise wurde er nicht nass. Über den drolligen Anblick musste ich lachen.
    Lorraine kam aus dem Restaurant und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Tut mir Leid, Sofie«, sagte sie. »Das konnte ich nicht wissen. Natürlich hat mir dein Vater von deiner Mutter erzählt, aber …«
    Â»Ist schon gut«, erwiderte ich. »Du hast wirklich keine Schuld. Manchmal ist es eben noch so. Jemand sagt etwas und ich muss losheulen.«
    Â»Verstehe ich gut«, meinte sie und wirkte ehrlich. »Kommst du wieder mit rein? Du wirst sonst ganz nass.«
    Ich hatte mich schon auf Lorraines trostreiche Worte eingestellt und mich gewappnet gegen leere Worthülsen, die ich in solchen Situationen meist zu hören bekam. Aber sie sagte nichts dergleichen. Fragte mich nur, ob ich wieder reinkommen wollte.
    Â»Na gut«, antwortete ich und folgte ihr nach drinnen.
    An diesem Abend im Restaurant, der noch richtig lustig wurde, lernte ich Lorraine besser kennen und merkte auf einmal, dass ich sie mochte. Es gefiel mir nicht, dass es so war, aber ich konnte nichts dagegen tun. Lorraine Cook war eine faszinierende Frau und es war nicht weiter verwunderlich, dass Papa das noch vor mir bemerkt hatte.
    Auch wenn er es versuchte, er war nicht gut genug darin, seine Sehnsucht nach Liebe zu verbergen. Ich sah wohl, wie seine Augen all das zärtlich verfolgten, was Lorraine sagte und mit eindrucksvollen Gesten begleitete. Was dachte er sich eigentlich dabei? Lorraine war Amerikanerin und würde sicher wieder aus seinem Leben verschwinden. Aber dann wurde mir bewusst, dass es ja mit mir und Javid dasselbe war. Er würde auch aus meinem Leben verschwinden.
    Und dabei wünschte ich mir so, ihn bei mir behalten zu können. Javids neue, unvermutete Offenheit gab mir das Gefühl, wichtig und wunderbar zu sein. Ich war

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