Der Gesang des Blutes
Wildschwein töten.
11
«Du hast
was
gefunden!?»
Hanna Wittmershaus starrte ihre Kundin an; vergessen waren der angezeigte Betrag in dem elektronischen Display, vergessen war das Wechselgeld.
Kristin, die ihr Portemonnaie geöffnet in der Hand hielt, war von dem schrillen Klang der Frage etwas erschrocken. Sie zögerte einen Moment, bevor sie wiederholte, was sie der netten Frau aus dem Edeka-Laden soeben erzählt hatte.
«Einen Handwagen, ziemlich groß. Und sehr alt. In einer Schublade lag sogar ein altes Messer. Könnte der Wagen nicht etwas mit der Geschichte vom Scherenschleifer zu tun haben? Du hast doch einen Handwagen erwähnt, oder nicht?»
Hanna starrte sie noch immer an. Nur langsam wandelte sich ihr Gesichtsausdruck von purem Entsetzen hin zu einem aufgesetzten Lächeln.
«Der Scherenschleifer? … Nein, nein, das glaube ich nicht. Das ist doch schon so lange her. Vielleicht gehörte der Wagen den Vorbesitzern des Hauses? Ganz bestimmt sogar.»
Hanna drückte auf eine Taste, und die Kassenlade öffnete sich mit einem leisen «Pling». Während all der Jahre, die sie im Laden verbracht hatte, war es ihr noch niemals dermaßen laut vorgekommen. «Das macht zwölf fünfundneunzig.»
Kristin begann in ihrem Portemonnaie zu suchen. «Es war ja auch nur eine Vermutung. Nach dem, was du mir erzählt hast, hätte es ja sein können. Und der Wagen sieht wirklich so aus, als stünde er schon seit hundert Jahren dort im Stall.» Sie gab Hanna das Geld.
Die legte es in die Kasse und reichte ihr fünf Cent. «Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Nach einer so langen Zeit müsste der längst vergammelt sein.»
Hanna spürte, wie unecht ihr Lächeln auf Kristin wirken musste, doch ein anderes bekam sie nicht zustande. Die Worte der jungen Frau waren heftig wie Messerstiche gewesen. Noch immer schien ihr Magen ein kleiner, fester Klumpen zu sein. Ihre Finger klammerten sich an die Kassenlade, die sie längst hätte schließen können. Sie beobachtete Kristin Merbold beim Einpacken ihrer Einkäufe, suchte verzweifelt nach Worten, die die Situation entspannen würden.
«Ist denn sonst alles in Ordnung bei dir?», fragte sie schließlich, als Kristin die letzte Packung Milch in die Stofftüte drückte.
«So weit ja. Wir kommen zurecht. Danke.»
«Schön, das freut mich. Johann hat mir erzählt, dass deine Kleine jetzt mit dem Toni spielt.»
«Ja, die beiden verstehen sich wirklich toll. Sogar nach dem Kindergarten verbringen sie Zeit miteinander. In der letzten Woche hab ich sie dreimal zu den Möncks gebracht.»
«Das freut mich. Wir sollten uns auch mal zusammensetzen. Maria, Johann, du und ich … und deine Mutter natürlich auch. Schließlich sind wir doch Nachbarn.»
«Gern, jederzeit.»
«Ich red mal mit Maria, und dann rufe ich dich an.»
Hanna verließ ihren Platz hinter der Kasse und begleitete Kristin bis vor die Tür. Kaum war der Cherokee vom Hof gerollt, schloss sie die Ladentür ab und lief in ihre Wohnung. Am Telefon im Flur wählte sie Johanns Nummer. Es war Mittagszeit, er ging selbst an den Apparat.
«Ja, Hanna hier. Du musst sofort vorbeikommen … nein … das Haus, schon wieder das verfluchte Haus … ach, hör doch auf damit, ich bin nicht hysterisch, aber dieses Haus bringt mich noch ins Grab.»
12
«Heut ist dein Geburtstag, darum feiern wir, alle, die dich lieben, feiern heut mit dir … wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst, wir gratulieren dir, Geburtstagskind!»
Lisas Stimme klang hell und klar wie das Bimmeln einer kleinen metallenen Glocke. Als Kristin im Pyjama und mit verschlafenen Augen die Küche betrat, stand ihre Tochter in dem hübschen blauen Kleid, das Tom gekauft hatte, vor dem Küchentisch und brachte ihr mit Ilses Unterstützung ein Geburtstagsständchen. In ihren Händen hielt sie einen Blumenstrauß, dessen zarte Stängel sie vor Aufregung fast zerquetschte.
Die Küche duftete nach aufgebackenen Brötchen und den vor kurzem angezündeten Kerzen. Das Rollo war heruntergelassen, damit die vielen Teelichte auf dem Tisch ihre Wirkung entfalten konnten. Kristin zählte sie nicht, sie verschwammen vor ihren Augen zu einem einzigen Lichtermeer. Wahrscheinlich waren es dreiunddreißig, entsprechend ihrem Alter. Seit ehedem war es eine Angewohnheit ihrer Mutter, Teelichte zu diesem Zweck zu missbrauchen. Der Duft nach Kaffee und Brötchen, das warme und lebendig flackernde Licht der Kerzen, aber vor allem das Leuchten in den
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