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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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gewachsen zu sein. Sie nahm die Handschuhe aus den Hosentaschen und begann. Als sie den ersten Stapel Bretter in den Armen hielt, fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, wohin damit. Wenn sie es nach draußen schaffte, würde Ilse sie bei jedem Gang vom Küchenfenster her beobachten. Aber hier drinnen war zu wenig Platz. Kristin seufzte und drückte die Tür mit dem Fuß auf. Der kühle Wind riss sie fort und drückte sie gegen die Wand. Es knallte. Sie brachte das Holz zu dem Haufen, der eigentlich schon längst hätte aufgebrannt werden sollen. Als sie sich umwandte, sah sie Ilses Gesicht hinter dem Küchenfenster verschwinden.
    Eine Stunde später war sie völlig verschwitzt und ihrem Ziel sehr nahe. Einige wenige Bretter eines alten Schrankes lehnten noch an dem, was da auf vier Holzrädern im Stall stand. Die Bretter waren aus Eichenholz und verdammt schwer. Kristin konnte immer nur eines tragen. Als sie zum vielleicht hundertsten Mal an diesem Vormittag aus der Tür trat, stand Ilse davor. Ohne Jacke, mit um den Leib geschlungenen Armen stand sie vor Kälte zitternd da.
    «Was machst du da eigentlich?» Ihre Stimme klang hoch, fast schon schrill.
    Kristin drängte sich mit dem Brett an ihr vorbei. «Aufräumen, das siehst du doch.»
    «Jetzt?»
    Darauf gab sie ihr keine Antwort, denn es war im eigentlichen Sinne keine Frage. Dieses «Jetzt» bedeutete vielmehr «Was für eine absurde Idee! Hast du nichts Besseres zu tun? Komm ins Haus und hilf mir bei der Wäsche». Das «Jetzt» war genau in dem Tonfall gesprochen, wegen dem Kristin sich die letzten Jahre zu Hause nicht mit Ilse verstanden hatte. Dieser Tonfall, der andere zu Kindern und Dummköpfen degradierte. Oh ja, dieses Art Rhetorik beherrschte Ilse.
    Kristin warf das Brett auf den beträchtlich angewachsenen Haufen. Sie hörte Ilse hinter sich.
    «Und was hast du mit dem ganzen Holz vor?»
    «Ich weiß noch nicht, vielleicht aufbrennen.»
    Ilse schüttelte den Kopf. «Warum diese Plackerei? Du hättest es ebenso gut im Stall lassen können. Hier draußen wird es doch nass!»
    Kristin atmete hörbar ein. «Mama … das weiß ich. Ich bringe es raus, weil ich im Stall etwas suche.»
    «So? Was denn?»
    «Komm mit, ich zeig es dir.»
    Kristin drehte sich um und ging zurück in den Stall. Sie wäre zwar lieber allein gewesen, wusste aber, dass sie vor Ilse kaum etwas verheimlichen konnte. Das war schon so gewesen, als sie noch zu Schule ging. Manchmal hatte Ilse einen Blick, der alles durchdrang und die Wahrheit ans Tageslicht brachte. Natürlich immer nur die unangenehme Wahrheit.
    Nur noch drei Bretter standen vor dem Gegenstand, und als Kristin ihn jetzt betrachtete, wusste sie, dass es genau das war, was sie erwartet hatte. Dieser Gedanke verursachte eine Gänsehaut, die ihr von den Schulterblättern bis zum Steißbein hinunterlief.
    «Was ist das?», fragte Ilse.
    Kristin ging vor, packte ein Brett nach dem anderen und stellte es zur Seite. «Das werden wir gleich wissen.»
    Und dann stand er vor ihr: der Handwagen! Das Holz wurmstichig und verwittert, die Naben und Beschläge der Räder bis über den Verfall hinaus verrostet. Eine Achse musste gebrochen sein, denn hinten links sackte er ab. Eine dicke Schicht Staub bedeckte ihn, ließ ihn grau und unwirklich erscheinen. Überall zerrissene Spinnennetze, allerorten Wurmlöcher, die Kristin mit bloßem Auge erkennen konnte. Ein Windstoß, so schien es, könnte dieses Relikt in Sägespäne verwandeln.
    «Was ist das?», wiederholte Ilse ihre Frage.
    Kristin trat einen Schritt zurück. «Das ist der Handwagen eines Scherenschleifers.» Warum sie flüsterte, vermochte sie selbst nicht zu sagen.
    «Eines Scherenschleifers? Wie kommst du denn darauf?»
    Ilse trat vor und klopfte mit dem Knöchel gegen das Holz. Kristins Herz blieb für einen Moment stehen. Irgendetwas erwartete sie, doch es geschah nichts. Das Klopfen klang, als poche man gegen etwas Lebendiges.
    «Sieht uralt aus.»
    «Ist er auch.» Kristin trat vorsichtig näher, zog einen Handschuh aus und wedelte damit über die obere Abdeckung. Der dicke Staub wallte auf und davon. Darunter kam offenes Holz zum Vorschein. An den meisten Stellen war es dunkel verfärbt, so als sei eine Flüssigkeit dort eingedrungen. An der ihnen zugewandten Seite befanden sich mehrere Schubladen. Einige waren ohne Griff. Die ersten beiden Laden ließen sich nicht öffnen; das Holz war verquollen. Erst an der dritten hatte Kristin Glück. Sie ging auf, als hätte jemand

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