Der Gesang des Blutes
Handgeräte, die dazu gedacht waren, die Blumenerde in den Töpfen der Zimmerpflanzen aufzulockern. Sie hatte auf einer Seite eine Harke, und auf der anderen eine Hacke, war verzinkt und am Schaft mit grünem Kunststoff ummantelt. Zunächst war Kristin sprachlos und konnte sich nicht erklären, weshalb Lisa ihr so etwas schenkte, doch dann fiel es ihr ein: In ihrer Hamburger Wohnung hatte sie eine ähnliche Hacke gehabt und damit unter Lisas Beobachtung ab und an die Erde in den großen Blumentöpfen aufgelockert. Nach dem Umzug war diese Hacke verschwunden, und Kristin hatte ein- oder zweimal eine Gabel zum Auflockern benutzt. Sie erinnerte sich an Lisas Frage nach der Hacke und ihre Entrüstung darüber, dass sie einfach verschwunden war.
«Die hast du ganz allein ausgesucht?», fragte sie.
Lisa nickte. «Ja. Oma hat mich hingefahren, und ich hab die Hacke verkauft.»
«Ich konnte sie nicht davon abbringen», tönte es von irgendwo aus der Küche, doch niemand beachtete Ilse.
«Ich freue mich ganz doll, wirklich!» Behutsam, als handele es sich um feinstes Kristall, legte Kristin die Handhacke in den Karton zurück. Dabei fiel ihr auf, dass er mit weißer Watte ausgelegt war, und plötzlich wusste sie auch, wohin ihre Kosmetikwatte verschwunden war, die sie seit zwei Tagen vermisste. Sie nahm Lisa noch einmal in den Arm und küsste sie. Als sie schließlich auf ihren Stühlen saßen, reichte Ilse ein flaches, ebenfalls in rotes Papier eingeschlagenes Geschenk über den Tisch.
«Ich hab hier auch noch eine Kleinigkeit für dich.»
Kristin nahm es entgegen. Sie erkannte sofort, dass es sich um ein Bild handelte. Es war ungefähr dreißig mal vierzig Zentimeter groß, flach, und unter dem Papier fühlte sie den Absatz des Rahmens.
«Was ist es denn?»
«Mach es auf, Mama, mach es auf. Da wirst du dich ganz schrecklich doll freuen!», platzte es Lisa heraus.
«Oh, du weißt also schon, was es ist?»
Lisa nickte mit geschlossenen Augen und tat geheimnisvoll. Kristin wickelte das Geschenk aus. Es war jenes Bild ihres Hauses, das sie sich damals in ihrer kleinen Stadtwohnung so oft mit Tom zusammen angeschaut hatte. Jenes Bild, über dem sie ins Schwärmen geraten waren und wegen dem sie die Hausbesichtigung kaum noch hatten abwarten können.
«Woher wusstest du das?», fragte Kristin leise, ohne den Blick von der Fotografie zu nehmen.
«Woher wusste ich was?»
«Dieses Bild … ich wollte es schon immer vergrößern lassen und in der Diele aufhängen.»
Ilse schenkte sich Kaffee ein. «Nun, davon wusste ich nichts, woher auch. Ich hab es beim Aufräumen im Büro gefunden. Es lag auf dem Schreibtisch. Ich dachte, du würdest dich darüber freuen.»
«Ich freue mich, wirklich», sagte Kristin, ohne von dem Bild aufzusehen. «Aber ich hatte es schon völlig vergessen.»
Einen Moment noch starrte sie es an, dann stand sie auf, ging zu ihrer Mutter hinüber und küsste sie auf die Wange. «Ich freue mich, vielen Dank.» Doch noch während sie sich hinsetzte und Lisa dabei half, ihr Brötchen zu beschmieren, wechselte ihre Stimmung.
Dieses Bild war der Beginn eines Traumes gewesen, und auch wenn sich mittlerweile ein Albtraum daraus entwickelt hatte, hatte Ilse in diesen Erinnerungen nicht das Geringste zu suchen. Ebenso wenig, wie sie an Toms Schreibtisch etwas zu suchen hatte. Kristin weigerte sich zu glauben, das Foto habe einfach so auf dem Schreibtisch gelegen. Sie war sich sogar sicher, es wieder in den Umschlag zurückgesteckt zu haben. Folglich musste Ilse ihn geöffnet haben.
Da war es wieder, dieses Benehmen von damals. Ilse hatte sich in den zehn Jahren seit ihrem Auszug nicht geändert. Wahrscheinlich wollte sie das gar nicht! Ohne einen Funken Respekt vor Dingen, die sie nichts angingen, schlich sie sich in jeden Winkel ihres Lebens, musste alles wissen, überall ihre mütterlichen Finger drin haben. Kristin spürte etwas in ihrem Bauch aufsteigen, schluckte es aber hinunter. Um Lisas willen schwieg Kristin. Und obwohl sie während des Frühstücks die Glückliche spielte, verschwand der Ärger nicht. Jedes Mal, wenn sie aus den Augenwinkeln zum Bild hinüberblickte, sah sie es nicht wirklich, sondern eine Szene, in der Ilse auf Toms Schreibtisch herumwühlte. Was hatte sie dort gesucht?
Als Lisa schließlich nach dem Frühstück in ihr Zimmer ging, um zu spielen, war es Kristin egal, dass sie Geburtstag hatte und es eigentlich ein Tag zum Feiern sein sollte. Sie musste das jetzt
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