Der Gesang des Blutes
klären.
«Mama», sagte sie, während sie das Geschirr abräumte, «ich möchte nicht, dass du in Toms Büro aufräumst. Da gibt es Dinge, die nur ihn und mich etwas angehen.»
Abrupt blieb Ilse mit zwei Tellern in Händen stehen, blickte ihre Tochter an und holte tief Luft. «Ich hab’s doch gewusst, gleich als du das Bild ausgepackt hattest, hab ich es gewusst. Kann man dir überhaupt noch etwas recht machen?»
Kristin drehte sich um. «Was hat das jetzt damit zu tun? Ich will einfach nicht, dass du in Sachen herumwühlst, die dich nichts angehen.»
Heftig stellte Ilse die Teller auf der Arbeitsplatte ab; die Messer klapperten auf dem Porzellan.
«Du wirfst mir vor, ich würde hier herumwühlen? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, wer hier seit dem Tod deines Mannes sauber macht, kleines Fräulein? Erst kommst du kaum aus dem Bett, dann treibst du dich im Wald herum oder räumst im Stall auf … alles andere ist dir doch völlig egal, du öffnest ja nicht einmal die Post. Also wirf mir bitte nicht vor, ich würde herumwühlen. Wir würden im Staub ersticken, wenn ich nicht das eine oder andere in die Hand nehmen würde.»
Kristin wollte die Teekanne vom Tisch nehmen, verschüttete dabei den Rest und stellte sie nahe der Kante wieder ab. Ihre Hände zitterten.
«Das ist ja wieder typisch für dich. Du ziehst irgendwelche Sachen heran, um deine eigenen Fehler zu vertuschen. Ich sag es noch einmal: Ich will nicht, dass du in unseren Sachen herumwühlst. Und außerdem bin ich kein kleines Fräulein.»
«Dann benimm dich bitte nicht so. Und wo wir gerade dabei sind, vielleicht fängst du ja langsam mal an, dich zusammenzureißen. Was glaubst du eigentlich, wie lange du dich vor der Wahrheit verstecken kannst?»
«Was soll denn das jetzt heißen?»
Kristin stand neben dem Tisch, ihre Hände öffneten und schlossen sich krampfartig. Sie fühlte ohnmächtige, kaum zu kontrollierende Wut in sich aufsteigen, und ein inneres Warnsignal riet ihr, die Küche zu verlassen. Doch dafür war es zu spät. Ohne es gemerkt zu haben, befand sie sich plötzlich auf einem Schlachtfeld, und sie ahnte, dass sie gegen Ilse nicht gewinnen konnte. Aber mit diesem Streit, den sie so leichtfertig vom Zaun gebrochen hatte, kamen Erinnerungen aus der Zeit an die Oberfläche, als sie noch bei ihren Eltern wohnte. Schon damals hatte sie jeden Disput verloren und sich fügen müssen. Jetzt befanden sie sich in ihrem Haus, sie konnte nicht einfach aufhören und zurückstecken. Außerdem war da schon wieder dieser altkluge, überhebliche Ausdruck in Ilses Gesicht, den sie so hasste. Du hast eine eigene Meinung, kleines Fräulein? Nun gut, wie du meinst, aber merke dir, in diesem Haus gilt nur die meinige.
«Was das heißen soll, kann ich dir genau sagen. Stell dich, verdammt noch eins, endlich wieder deinem Leben und hör auf, dich zu verstecken. Tom ist tot, und er wird es auch ganz bestimmt bleiben, aber du bist noch lebendig. Wenn ich schon sehe, wie du den ganzen Tag an seinem Ehering herumdrehst … Ihn überhaupt zu tragen, ist töricht, naiv und selbstzerstörerisch. Mein Gott, Mädchen, wach endlich auf!»
Sie hatte fast geschrien, und jedes Wort traf Kristin tief. Schon wieder brachte sie Tom ins Spiel. Sie wusste genau, dass er immer noch ein wunder Punkt war. Es war ja so einfach, in offenen Wunden herumzustochern. Kristin konnte nicht mehr klar denken, ihr Kopf war voll Wut und Schmerz. Was sie dann sagte, wollte sie nicht sagen, doch sie konnte es nicht verhindern.
«Wenn du Papa so geliebt hättest wie ich Tom, dann hättest du auch länger als drei Tage getrauert. Für mich endet nicht alles mit dem Tod.»
Mit diesen Worten wollte Kristin sich umdrehen und davonlaufen. Dabei stieß sie mit der rechten Hand die Teekanne vom Tisch. Sie zerplatzte krachend auf dem Fliesenboden, Scherben schossen in alle Richtungen.
Kristin sprang erschrocken zur Seite.
«Siehst du, das ist alles nur deine Schuld!», schrie sie. Dann stürzte sie aus der Küche, rannte die Treppe hinauf und schmetterte die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich zu. Dabei übersah sie Lisa, die weinend und mit einer Faust im Mund in der Diele stand.
Einen Augenblick blieb die Zeit stehen in dem alten Haus. Nicht sehr lange, nur kurz. Doch als seien hundert Jahre vergangen, bückte Ilse sich mit der Schwerfälligkeit einer steinalten Frau und begann wie in Trance die Scherben der bauchigen, braunen Teekanne
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