Der Gesang des Blutes
dem Einschlafen für die Merbolds beten … es ist das Einzige, was wir im Moment für sie tun können.»
Das Haus lag wie eine zum Sprung geduckte Katze in der Dunkelheit. Und sie blinzelte mit ihren glühenden Augen, als die Lichtfinger der Scheinwerfer kurz im Glas des Küchenfensters aufblitzten. Zum ersten Mal hatte Kristin beim Anblick des Hauses ein schlechtes Gefühl. Sie würde Johann bitten, einen Bewegungsmelder zu installieren, der das Außenlicht einschaltete, sobald jemand die Einfahrt hinunterfuhr. Sie mochte Häuser nicht, die ihre Gäste mit Dunkelheit begrüßten. Aber lohnte sich der Aufwand überhaupt noch?
Kristin fuhr den Jeep in den Unterstand, stellte Motor und Scheinwerfer aber erst ab, nachdem sie ausgestiegen war und das Garagenlicht angeknipst hatte. Dunkelheit konnte sie an diesem Abend nicht ertragen. Sie schnallte Lisa los und hob sie aus dem Fond. Im sparsamen Licht der Sechzig-Watt-Glühbirne gingen sie auf die Haustür zu.
«Geht es Oma noch immer nicht gut?», fragte Lisa.
«Sie schläft noch tief und fest und darf nicht gestört werden. Deshalb dürfen ja auch keine Kinder ins Krankenhaus. Aber sobald Oma wach ist, nehme ich dich mit.»
«Ich möchte niemals in ein Krankenhaus, wenn da keine anderen Kinder hin dürfen. Das ist bestimmt furchtbar langweilig.»
«Ja, da hast du recht, das ist es.»
Sie erreichten die Haustür. Kristin schloss auf, machte Licht auf der Diele und führte Lisa zwei Schritt weit hinein. «Bleib einen Moment hier stehen, ich lauf schnell zurück und mach das Licht aus.»
Hastig rannte sie zum Unterstand, legte den Schalter um, rannte zurück zum Haus und verriegelte die Tür gewissenhaft. Dann machte sie Licht in Küche, Wohnzimmer und Treppenaufgang. Allmählich kehrte die gewohnte Behaglichkeit zurück. In der Küche stellt sie das tragbare Radio an, das sie von ihrem Vater zur Konfirmation bekommen hatte. Ein altes Gerät, das nur noch zum Ein- und Ausstellen geeignet war, doch Kristin mochte es. Es erinnerte sie an ihre Kindheit und an ihren Vater, den sie jetzt gern an ihrer Seite hätte.
«Möchtest du noch etwas essen, Lisa?»
«Ohh … lieber nicht», stöhnte die Kleine. «Ich musste schon so viel von der Suppe essen.» Theatralisch hielt sie ihre Hände vor den Bauch.
«Okay, junge Dame, dann würde ich sagen, ab ins Bett.»
«Muss ich wirklich schon?»
«Ich fürchte ja. Es ist beinahe acht. Geh bitte ins Bad und putz dir die Zähne. Ich bereite schon mal dein Bettchen vor.»
«Okay.» Lisa fügte sich in ihr Schicksal und ging ins Bad. Während Kristin Lisas Bettzeug aufschüttelte und das Zimmer lüftete, hörte sie die Geräusche der Toilettenspülung und des Wasserhahns aus dem Raum nebenan. Kurz darauf kam Lisa mit vom Waschen rosigen Wangen herein.
«Alles sauber, kleine Maus?»
«Ja, alles sauber. Auch hinter den Ohren.»
Kristin zog ihr den Schlafanzug an. Lisa kroch unter die Bettdecke, zog die drei Stofftiere hinzu, mit denen sie zu schlafen pflegte, und blickte ihre Mama an. Ihre Augen waren klein vor Müdigkeit.
«Du, Mama?»
«Ja.»
«Wenn es Oma nie mehr bessergeht, kommt sie dann dahin, wo Papa jetzt ist?»
Die Frage war genauso logisch wie berechtigt, traf Kristin aber unvorbereitet. Es überraschte sie, wie Lisa diese Dinge miteinander verband.
«Ich weiß es nicht», sagte sie wahrheitsgemäß. «Weißt du, sie ist ganz böse gefallen und hat sich den Kopf gestoßen. Dort im Krankenhaus helfen ihr viele Ärzte, damit sie wieder richtig gesund wird. Und wenn sie das ist, kommt sie wieder nach Hause. Das kann aber noch eine Zeitlang dauern.»
«Wie lange? So lange bis Weihnachten?»
«Vielleicht. Vielleicht aber auch länger.»
«Hat Oma Schmerzen im Kopf?»
«Nein, sie schläft ja. Man wird am schnellsten gesund, wenn man viel schläft. Weißt du noch, du musstest auch im Bett bleiben, als du die Masern hattest?»
Lisa nickte. «Ja, da waren meine Beine so wackelig.»
«Siehst du, genauso geht es der Oma jetzt auch. Aber sie wird bestimmt wieder gesund. Alles wird wieder gut. Und jetzt schlaf ein, Träumerchen. Morgen ist ein neuer Tag.» Kristin drückte Lisa einen Kuss auf die Stirn. «Gute Nacht.»
«Gute Nacht, Mama.»
Sie schlich aus dem Zimmer, ließ die Tür aber halb geöffnet. In der Küche holte sie eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas ein. Das Radio vertrieb die Einsamkeit. Während sie einen langen Schluck trank, wechselte die Musik. Schon an den ersten sanften
Weitere Kostenlose Bücher