Der Gesang des Blutes
Moment hatte sie wirklich geglaubt, ihre Beine seien verschwunden.
Kristin atmete stoßweise aus. Ein Kichern begann sich von ihren Lippen zu lösen; es klang so irre, dass sie Angst bekam. Ein Blick auf den Wecker verriet es ihr: Sie hatte kaum länger als eine Stunde geschlafen. Eine Stunde voller Entsetzen. Großer Gott, was war nur mit ihr los? Hatte sie schon jemals solche Träume gehabt? Solche Angst empfunden?
Kristin stieg aus dem Bett. Auf nackten Füßen schlich sie aus dem Zimmer, hinaus auf den Gang, um nach ihrer Tochter zu sehen. Lisa lag auf dem Rücken, hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt und schnarchte leise. Die Bettdecke hatte sie zur Seite gestrampelt. Kristin entwirrte sie und zog sie hoch bis zum Kinn.
Es war nicht gut, wenn etwas unter der Decke hervorschaute. Jemand könnte kommen und es mit einem Beil abschlagen. Der Kopf bildete eine Ausnahme, er durfte frei liegen. Der Kopf war tabu. Aber nur der Kopf.
Lisa stöhnte im Schlaf, warf sich auf die Seite – wobei sie geschickt zwei ihrer drei Stofftiere ergriff – und schmatzte sich in den Traum zurück. Kristin strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. Sie betrachtete sie noch einen Moment, schlich dann leise in ihr Zimmer zurück. Dort kroch sie unter die noch warme Decke.
Sie konnte nicht sofort wieder einschlafen, versuchte zu ergründen, was an dem Traum sie so erschreckt hatte. Die Eindrücke waren schon verblasst, bis auf einen: Johann, der mit heraushängender Zunge am Ast der Kastanie im Wind baumelte. Johann, der offensichtlich tot war und doch mit dem Finger auf sie wies.
Plötzlich waren auch die Worte wieder da. Sie konnte sie hören und irgendwie auch sehen. Greifbare Wörter, die aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins herübergeschwappt kamen.
Nur mein Blut an der Klinge, nur mein Blut.
Sie kannte diese Worte, hatte sie schon einmal gehört. Aber sie ergaben keinen Sinn, ebenso wenig wie der Reim aus dem Lied. Beides schien sie zu verfolgen. Aber warum?
Kristin entschied, dass es müßig war, sich Fragen zu einem Albtraum zu stellen. In Träumen konnte alles passieren, und nichts davon musste einen Sinn haben. Vielleicht ließen Träume sich manchmal deuten, aber gewiss nicht immer. Und dieser gleich gar nicht. Wirres Zeug, überreizte Nerven, weiß der Teufel. Sie griff nach rechts, schaltete die Nachttischlampe aus und versteckte sich sorgfältig unter der Decke. Trotz aller vernünftigen Erklärungen konnte es nicht schaden. Außerdem war es kalt da draußen.
Erneut lauschte sie der merkwürdigen Symphonie ihres Hauses. Es spielte dunkle, schlechtgelaunte Töne auf alten Eichenbalken, durchdringende, zerrende Laute auf langen Dachsparren, stimmte mit dem starken Ostwind ein Duett leiser, hingehauchter Töne an, dazwischen das Getrappel von irgendwas mit vielen Füßen in irgendwelchen Hohlräumen und das stetige Rauschen von Wasser in den Heizungsleitungen. Je länger sie lauschte, desto besser konnte sie das Haus verstehen.
19
«Mein Leben … ist das der Preis?»
Es war nicht das erste Mal, dass Robert mit sich selbst sprach. Ob das bei Menschen, die viel Zeit mit sich allein verbrachten, normal war oder ob er bereits unter geistigem Verfall litt, war Robert egal. Mitunter half es einfach beim Denken. Es half, unkontrollierte Gedanken in grade Bahnen zu lenken.
Er faltete die alte Tageszeitung auseinander. Das Papier war mittlerweile vergilbt und fühlte sich wie alte, trockene Haut an. Warum hatte er das Geld darin eingewickelt? Warum? Vielleicht gab es eine Antwort, irgendeinen Grund musste er schließlich dafür gehabt haben. Aber er fand ihn nicht. Es war zu lange her.
Mit der Zeitung vor dem Gesicht rutschte er mit dem Rücken an der Wand hinab, bis er auf dem Boden saß. Zwischen seinen Füßen fehlten zwei Parkettstücke. Darunter war der dunkle Aufbau des Fußbodens zu sehen. Ein Fach, nicht höher als fünfzehn Zentimeter. Platz genug, um hunderttausend Euro zu verstecken.
Die Frau war noch immer eine Schönheit, auch auf vergilbtem Papier. Ihr Lächeln und das ihrer Tochter war noch immer strahlend. War es mittlerweile zu ihnen zurückgekehrt? Wahrscheinlich nicht. Wie viel Leid konnte man in ein paar Wochen schon verarbeiten?
Robert strich mit dem Daumen über das Bild. «Das könnte der Preis sein», sagte er leise. Diesen Zeitungsbericht ausgerechnet jetzt vorzufinden, verwirrte ihn. Mehr, als es ihm lieb war. Aus einer dunklen Stelle irgendwo in seinem Gehirn meldete sich Sven
Weitere Kostenlose Bücher