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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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von Nadeln über den unebenen Waldboden gelegt. Dort ließ die ständige Feuchtigkeit die Nadeln langsam zerfallen. Der Geruch, er war so … betäubend … so einschläfernd …
    Plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein!
    Irgendjemand – irgendetwas – hielt sich mit ihr zusammen im Wald auf. Und es war ihretwegen hier. Diese Erkenntnis rief eine tiefe Angst hervor, die seit Urzeiten in ihr gewesen war: die Angst vor der Hand in der Dunkelheit, die als Erstes am Lichtschalter ist; die Angst vor dem Ding im Schrank, vor dem, was existierte, um ihr Leid zuzufügen. Ohne dass sie es gesehen, gerochen oder gehört hatte, wusste sie, dass es da war. Hinter einem dieser dicken Stämme wartete es, würde sich erst im letzten Augenblick zeigen, hervorspringen, seine langen Klauen in ihren Hals schlagen. Sie durfte nicht weitergehen, auf keinen Fall! Sie musste zurück zum Haus. Im Haus würde sie in Sicherheit sein.
    In der Erwartung eines Weges, der sie zum Haus führen würde, drehte sie sich um – doch da war nichts. Nur Wald, Wald, Wald. Auch dort konnte es stecken. Überall! Es gab keinen Ausweg.
    Gab es wirklich keinen Ausweg? War ihr Schicksal schon beschlossene Sache? War es ab jetzt ganz egal, was sie tat? Nein, das konnte, das durfte nicht sein. Es gab immer eine Chance, immer einen Weg. Sie drehte sich im Kreis und suchte nach diesem Weg. Wie war sie nur in den Wald gekommen, wenn nicht auf einem Weg oder Pfad? Sie wusste es nicht mehr, aber es spielte auch keine Rolle. Ab dem Moment, wo sie den Gesang hörte, spielte nichts mehr eine Rolle.
    «Ich bin wieder hier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt.»
    Es war zurückgekehrt, ihretwegen war es wieder hier. Es wollte sie!
    Plötzlich hielt sie nichts mehr zurück. Ganz egal wohin, sie begann zu laufen. Der Waldboden unter ihren Füßen war weich und federnd, sie spürte ihn kaum, meinte zu fliegen. Sie lief schnell, sprang über alte, vermoderte Baumriesen hinweg, die der Sturm gefällt hatte, wich Stämmen aus, tiefhängende Zweige zerkratzten ihr Gesicht. Noch immer war nichts als Wald zu sehen, noch immer das grässliche Gefühl, verfolgt zu werden.
    Der Gesang war verklungen. Jetzt hörte sie nur noch ihren eigenen hetzenden Atem und das laute Pochen des pulsierenden Blutes in ihren Ohren. Bald brannte Salz in ihren Augen. Sie lief schneller und schneller, versuchte, sich noch mehr zu beeilen, und spürte plötzlich, wie sie in eine starke Vorlage verfiel. Immer weiter beugte sich ihr Oberkörper vor. Sie ruderte mit den Armen, verzweifelt, nach Halt suchend, doch immer weiter kippte sie nach vorn. Sie verlor das Gleichgewicht, ihre Beine strauchelten, sie stürzte.
    Dann lag sie im Schotter des Hofes unter der mächtigen Kastanie.
    Sie stemmte sich auf Knie und Handballen hoch, legte den Kopf in den Nacken und sah zu den ausladenden, kahlen Ästen hinauf. Nur wenige Meter entfernt baumelte eine Gestalt an einem kurzen Seil. Leicht schaukelte sie hin und her, der Wind drehte sie langsam, sodass sie bald erkennen konnte, wer da hing. Johann! Es war Johann Mönck. Seine Augen waren weit aufgerissen, quollen hervor, seine Zunge hing heraus. Trotzdem hob er plötzlich den rechten Arm, zeigte in ihre Richtung und wies mit einem Finger auf sie, unter dessen Nagel dunkle Erde klebte. «Nur mein Blut an der Klinge», sagte er, «nur mein Blut.»
    Sie rappelte sich auf, wollte weg, nur weg, lief ein paar Schritt und fiel wieder hin. Unter ihren Händen war plötzlich der feuchte Lehmboden des Kellers. Was auch immer sie im Wald verfolgt hatte – nun lauerte es im Keller. Die Dunkelheit bot ihm Schutz. Sie konnte es hören. Ein zunächst kratzendes, dann schlurfendes Geräusch, immer lauter – immer näher.
    Sie wollte weg, konnte sich aber nicht bewegen. Da, wo sie hätten sein sollen, waren keine Beine mehr. Sie blickte an sich herunter und erkannte den Grund. Das Ding im Keller hatte sich von hinten angeschlichen. Es hatte ihre Beine gefressen. Oh Gott, es hatte ihre Beine gefressen. Sie waren einfach nicht mehr da. Zwei zerfranste Stümpfe ragten aus ihrer Hüfte. Weißes und rotes Fleisch, das nicht blutete.
    Ihre Beine … ihre Beine waren weg!
    Sie wollte ihre Beine wieder … sie …

    … erwachte mit einem Schrei auf den Lippen, den sie kaum zurückhalten konnte. Hastig machte sie Licht, schlug die Decke zurück, richtete sich auf und starrte wie gebannt auf ihre Beine. Sie waren noch da. Gott sei Dank! Für einen

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