Der Gesang des Blutes
ohne euch machen würde», sagte sie.
«Du bist in diesem Haus jederzeit willkommen, jederzeit, hörst du?» Der Nachdruck, mit dem Maria sprach, ließ Kristin stutzig werden, und sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen.
«Gute Nacht», sagte sie schließlich und reichte beiden zum Abschied die Hand. Als sie den Cherokee zurücksetzte, sah sie im Spiegel, dass Maria und Johann ihr nachsahen.
Johann und Maria sahen dem Geländewagen noch nach, als seine Rücklichter längst in der Dunkelheit verschwunden waren. Hanna kam zu ihnen an die Tür. Eine kalte Böe ließ sie erschauern; sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch.
«Wir hätten es ihr sagen sollen», sagte sie, ohne jemanden anzusehen.
«Und was hätten wir sagen sollen? Du hast doch gesehen, in welcher Verfassung sie ist. Außerdem …» Johann warf einen langen Blick zum nächtlichen Himmel hinauf, als könne der ihm helfen. «Das Mädchen kommt aus der Stadt, die ist modern. Was meinst du? Was würde sie tun, wenn wir ihr die ganze Geschichte erzählen?»
In jener Nacht, als er sie ins Krankenhaus gefahren hatte, hätte er es beinahe getan – aber nur beinahe. Die Ruhe und Nähe im Wagen, das Gefühl der Sicherheit … aber zwei Hiobsbotschaften an einem Abend, nein, das hätte das Mädchen nicht ertragen. Bei ihrer Ankunft hätte Ilse tot sein können. Wie, um alles in der Welt, hätte er Kristin in einer solchen Situation einweihen sollen?
Und jetzt? Jetzt lag das Unglück bereits fünf Tage zurück, und die Zeit brachte es mit sich, dass es ihm tatsächlich nur noch wie ein Unglück vorkam. Ein Zufall, nichts weiter.
Hanna zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht. Aber wir können sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Wenn wir uns nicht schuldig machen wollen, müssen wir es ihr sagen.»
«Dann tu du es bitte», sagte Johann.
«Sie tut mir so leid.» Maria lehnte sich an die Schulter ihres Mannes. Er überragte sie um mehr als Haupteslänge. «Sie steht jetzt mit ihrer Tochter ganz allein in der Welt, weiß weder ein noch aus. Wollen wir wirklich warten, bis auch der Kleinen etwas zustößt? Es wird nicht aufhören, das ist euch doch klar, oder?»
«Nein, das ist mir nicht klar», sagte Johann und wischte mit der Hand durch die Luft. «Wir wissen eigentlich gar nichts. Das sind doch alles nur Zufälle. Was damals mit den Nussmanns geschehen ist, muss sich nicht unbedingt wiederholen.»
«Nein, das muss es nicht. Aber willst du es darauf ankommen lassen? Ich kann verstehen, dass du es ihr nicht sagen willst, aber wenn es überhaupt jemand tun kann, dann du, und das weißt du auch. Dir vertraut Kristin. Wenn du mit ihr darüber sprichst, wird sie es nicht einfach als Spinnerei abtun.»
Johann Mönck seufzte tief, seine Finger spielten an der Türklinke. «Ich weiß nicht, ich weiß nicht … wir sollten noch etwas abwarten. Ich meine –»
«Wie lange wollen wir warten?», unterbrach Maria ihn. «Bis Lisa etwas zustößt, oder Kristin?»
«Und wenn ich es ihr gesagt habe, was dann? Wenn sie mich ernst nimmt – was ich nicht glaube –, wird sie keine Sekunde länger in dem Haus bleiben wollen. Was machen wir dann? Willst du sie hier aufnehmen?»
«Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, warum nicht? Sie ist eine nette Frau und hat eine reizende Tochter. Für eine kurze Zeit würde es ganz bestimmt gehen.»
«Für eine kurze Zeit, ja, und danach? Wir haben doch damals mit dem Makler gesprochen … ich hab jedenfalls nicht vergessen, wie er uns ausgelacht hat. Er wird das Haus wieder und wieder verkaufen. Wir können doch nicht alle Leute retten, die dort einziehen.»
«Aber im Moment geht es doch nur um Kristin und Lisa. Was danach kommt, wer weiß das schon?» Maria zuckte mit den Schultern.
«Außerdem können wir noch immer tun, was wir schon vor Jahren hätten tun sollen», sagte Hanna.
Johann drehte sich zu ihr um und zog die Augenbrauen zusammen. «Und das soll ich dann auch wieder tun, oder wie? Dafür geht man ins Gefängnis, das ist dir doch hoffentlich klar.»
Hanna wich zurück. Selten hatte sie den gutmütigen Johann so aufgebracht gesehen. Maria hakte sich bei ihrem Mann ein und zog ihn auf den Flur zurück.
«Wir sollten nicht streiten, das bringt uns nicht weiter. Ich schlage vor, wir schlafen noch eine Nacht darüber. Vielleicht hat Johann recht, und es passiert wirklich nichts mehr. Besser wäre es, für uns alle. Lasst uns vor
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