Der Gesang des Satyrn
Die Frauen, die ins Odeion gingen, waren entweder Hetären oder Huren, und die Blicke, die unter den mehr oder weniger kostbar gewandeten Frauen gewechselt wurden, bezeugten eine andere Art der Eifersucht. Hier ging es fast immer darum, sich gegenseitig abzuschätzen. Wer war das neue Mädchen an der Seite des Neilos, der in Athens höchstem Rat, dem Aeropag, saß?
War sie eine Rose, die es zu fürchten galt, oder nur eine Mohnblume, die bald verblüht wäre? Hatte Elpis nicht in letzter Zeit etwas von ihren Reizen eingebüßt? Wurde sie nicht langsam alt? Es wäre vielleicht an der Zeit, sich in das Augenmerk ihres reichen Gönners zu bringen! Neaira schritt unter all den Blicken hindurch und wusste, dass man auch sie und Phrynion beobachtete. Tatsächlich war sie eine der ältesten Hetären in Athen, die noch immer von ihrem Gönner ausgehalten und geschätzt wurde. Schon dieser Umstand reichte für weibliche Missgunst. Unter vielen bleich geschminkten Gesichtern gärte Neid. Neaira war es egal. Sie war des Gerangels um Ansehen und Berühmtheit überdrüssig. Oft dachte sie an Lais, die höchstens acht oder zehn Jahre älter als sie gewesen war.
Berühmt und bewundert war sie gewesen, als sie in Korinth mit Chabrias das Theater besucht hatte. Wie viele Augenpaare hatten sie begehrt, wie viele Zungen voll des Lobes von ihr gesprochen? Wer sprach heute noch von ihr? Wer vermisste sie? Eine Sklavin in Phrynions Haus hatte Neaira erzählt, dass Lais ihren Körper nun für weniger als hundert Obolen anbot. Einem anderen Gerücht zufolge war sie vor ein paar Wochen gestorben – unter einem der Männer, die für ihren Körper bezahlten.
Nein, Neaira war dieses Kampfes müde! Wenn sie auch die Gattinnen noch immer gerne für ihre Überheblichkeit strafte - die jungen Mädchen hier waren nicht ihre Feinde.
Irgendwann würden sie alle sein wie Lais oder Phila – auch wenn die jungen Dinger noch keinen Gedanken an das Alter verschwendeten.
Phrynion schob Neaira zu den guten Plätzen, die nahe am Geschehen lagen. Auch dies war ein Privileg, um das sie sichtlich beneidet wurde. Je näher ein Mädchen den Rednern war, desto reicher und wichtiger war ihr Gönner.
Hier und da grüßte Phrynion einige der Herren, die mit Hetären oder besseren Huren erschienen waren. Sie grüßten auch Neaira, und diese bedachte sie im Gegenzug mit einem kurzen Lächeln oder Nicken. Es wurde gelärmt und gelacht, die Frauen kicherten und umgarnten ihre Begleiter, um sie großzügig zu stimmen. Nur zwei Reihen hinter ihr saß Medusa, ein sehr junges Mädchen, das ihren Namen dem Umstand zu verdanken hatte, dass sie es in nur einem Jahresumlauf geschafft hatte, von der hinteren Reihe bis in die dritte Reihe bei den Aufführungen zu gelangen. Hierfür hatte sie zwei ihrer Gönner in den Ruin getrieben. Scheinbar hatte sie nun endlich einen Gönner gefunden, der es sich leisten konnte, all ihre Forderungen zu erfüllen. Bald wird sie neben mir sitzen , dachte Neaira mit innerlicher Abscheu gegen das Mädchen. Medusa war wie alle anderen, wollte ihren Platz im Leben sichern ...
trotzdem kam es Neaira so vor, als würde sie selbst fallen, wenn Medusa die erste Reihe des Odeions erreichte. Lais war gefallen, und es war nur eine Frage der Zeit bis ihr das Gleiche widerfuhr. Ein Seitenblick auf Phrynion machte Neaira nachdenklich. Wenn er ihrer überdrüssig würde, könnte sie in ihr bescheidenes Leben zu Stephanos zurückkehren. Obwohl sie sich immer danach gesehnt hatte nur einem einzigen Mann zu gehören, erschauderte sie bei dem Gedanken für immer in diesem kleinen Haus zu leben. Was gab es dort für sie? Den lauwarmen Stephanos, von dem sie sich keinerlei Unterstützung erhoffen konnte, Proxenos und Ariston, die sie hassten ...
ein Leben wie unter einer stickigen alten Decke! Obwohl der Abend angenehm warm war, fröstelte sie, denn mittlerweile war sich Neaira sicher, dass der Besuch der Vorführung nicht Phrynions Großzügigkeit entsprang. Wollte er sie vor aller Augen verstoßen, indem er sie öffentlich gegen eine neue Geliebte austauschte? Es waren so viele, die nur zu gerne ihren Platz an seiner Seite eingenommen hätten. Sie waren bescheidener als Neaira. Jung und willig nahmen sie, was sie bekommen konnten, ohne sich zu beschweren.
Aber für Phrynion wären sie eine allzu leichte Beute, also glaubte Neaira nicht, dass er sie deshalb hierher gebracht hatte. Sie sah sich um und hielt Ausschau nach Herren, die sie kannte. Vielleicht
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