Der Gesang des Satyrn
ihren mitleidvollen Blick für den Vogel bemerkte, und winkte den jungen Sklaven heran, der zwischen den Säulen der Vorhalle wartete.
Obwohl er seit einem Mondumlauf Phrynions Lager teilte, verhielt er sich noch immer scheu. Neaira konnte es ihm nicht verdenken und fragte sich beim Anblick des hübschen Knaben, ob Phrynion auch über ihn herfiel wie ein hungriger Löwe. Sie war nicht eifersüchtig auf ihn, noch fürchtete sie, dass Phrynion sie für seinen Sklaven verstieß.
Phrynion überfiel hin und wieder die Lust nach Knaben. Er war der Löwe in seinem Rudel und begattete es regelmäßig und gründlich.
Der Junge trat näher, wobei Phrynion ihn zu sich herunterzog, sein Geschlecht umfasste und dem Knaben einen gierigen Kuss abrang. Dann schob er ihm ein Stück des gebratenen Papageis in den Mund, das er artig kaute und hinunterschluckte.
„Mein Sklave ist nicht so verwöhnt, wie du, Neaira.“ Er grinste und fragte den Jungen, weshalb er im Andron erschienen war.
„Herr, dein Gast wartet darauf, von dir empfangen zu werden.“
„Ach ja, mein Gast“, gab Phrynion ausgelassen zu und schickte den Jungen, ihn ins Andron zu führen. Neaira sah dem geschmeidigen Rücken des Sklaven nach. Nein, sie war nicht eifersüchtig – weder auf den hübschen Sklaven noch auf Phrynions Gäste, die ihr die Gelegenheit gaben, ihrem Abendmahl zu entkommen. „Soll ich mich zurückziehen?“, fragte sie beiläufig.
Phrynion stürzte seinen Wein hinunter und seufzte zufrieden. „Das ist nicht nötig. Ich möchte, dass du bleibst.“ Er wies mit goldberingter Hand auf ihren Papagei.
Neaira brach einen Flügel ab, wobei sie sich bei den Glasflussaugen des Vogels entschuldigte, welche die Diener in seine leeren Augenhöhlen gesteckt hatten. Dieses arme Tier konnte ebenso wenig davonfliegen wie sie, also machte Neaira es sich auf der Kline bequem und beobachtete Phrynion, dem es keine innerlichen Zerwürfnisse bereitete seinen Papagei zu zerlegen. Ob sie es wollte oder nicht – sie war ein Teil seines Lebens geworden, also beanspruchte sie auch dessen Annehmlichkeiten für sich. Die Jahre hatten Phrynion eine gewisse Trägheit verliehen, sodass er sich gerne im eigenen Haus verwöhnen ließ, anstatt auszugehen. Gäste empfing er jedoch selten. Manchmal verlangte er von Neaira, dass sie mit ihm und seinen Gästen trank, jedoch hatte er sie nie wieder aufgefordert, sich ihm vor den Augen anderer hinzugeben. Phrynion rief Flötenmädchen in sein Haus, mit denen er zu dritt oder zu viert erst gegen Morgengrauen in seinen Räumen verschwand. Neaira hatte ihn auch einmal in der Umarmung des hübschen Sklaven überrascht. Phrynion hatte gelacht, während Neaira mit den Schultern gezuckt hatte und gegangen war. Eigentlich bot er ihr ein angenehmes Leben, sofern sie über seine Ausschweifungen und hinterhältigen Boshaftigkeiten hinwegsah. Wenn er zu ihr kam, dann nie mit dem Geruch einer anderen an seiner Haut.
Neaira zupfte gerade ein paar grüne Federn aus dem Flügel, als der Gast ins Andron trat. Vollkommen überrumpelt von seinem Anblick musste sie husten.
„Wie schön, dass du es einrichten konntest.“ Phrynion, der tat als würde nichts Ungewöhnliches vor sich gehen, forderte seinen Gast auf Platz zu nehmen.
„Stephanos ... bist du gekommen, um mich abzuholen?
Aber es sind doch noch fast vier Tage“ gab Neaira verständnislos zu.
„Nicht doch“, mischte sich Phrynion freundlich ein, bevor Stephanos in die Verlegenheit kam zu antworten.
„Stephanos und ich haben beschlossen, unseren Streit beizulegen. Immerhin gelingt unsere Vereinbarung seit mehr als einem ganzen Jahresumlauf ... es ist doch fast so, als wären wir eine Familie!“ Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, das nur sie deuten konnte, und prostete ihr mit seiner Weinschale zu.
„Neaira, es wäre doch schön, wenn wir alle freundschaftlich miteinander umgehen“, versuchte Stephanos sich zu erklären, dem die Situation sichtlich unangenehm war. Wie er dort unsicher auf der Kline saß, in seinem einfachen Chiton und mit staunenden Augen die Köstlichkeiten bewunderte, von denen sich Neaira und Phrynion so selbstverständlich bedienten, empfand sie mit einem Male Mitleid mit Stephanos. Wie verloren er aussah zwischen all diesem Reichtum. Er ist gedankenlos, aber nicht vom Geschmack des Wohlstands verdorben, wie ich ... und wie Phrynion. Das erste Mal sah sie, wie unmöglich jene beiden Leben waren, die sie lebte. Eine Ahnung, die sich zu einem
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