Der Gesang des Satyrn
die Anklageschrift gegen dich verlesen. Ich werde mich jetzt zurückziehen und an einer Verteidigungsrede arbeiten.“
Sie sah Stephanos nach, als er ging. Neaira kämpfte gegen die Schuldgefühle an, die sie ihm gegenüber empfand. Das alles wäre nicht geschehen, wenn sie von Stephanos nicht verlangt hätte, Phano die Bürgerrechte zu erschleichen. Durch diese Tat hatte er sich angreifbar gemacht. „Ich möchte dich morgen begleiten“, hörte sie sich sagen.
Stephanos schüttelte den Kopf. „Das ist nicht möglich!
Frauen sind bei den Tagungen der Gerichte nicht zugelassen.“
Neaira sprang auf. „Ich werde öffentlich angeklagt und darf noch nicht einmal hören, was man mir vorwirft oder selbst etwas dazu sagen?“
„So ist es nun einmal, Neaira ... du kennst die Gesetze der Polis doch mittlerweile.“
Sie fragte sich, wie ihm diese Gesetze nicht ungerecht erscheinen konnten!
Stephanos schien ihre Wut falsch zu deuten, denn er lächelte ihr aufmunternd zu. „Ich werde Apollodoros nicht gewinnen lassen. Du musst dich nicht sorgen.“
„Ja“, sagte sie matt und ließ ihn gehen, damit er die Verteidigungsrede vorbereiten konnte.
Proxenos und Ariston stürmten am nächsten Tag ins Andron. Neaira war froh, dass sie erst kamen, als Stephanos von der Agora zurückgekehrt war. Die Anklage Apollodoros, der behauptete sie seien Söhne der Hetäre Neaira, hatte sich unter den Herren der Polis schnell verbreitet. Überall auf der Agora, im Odeion und in den Tempeln sprach man von nichts anderem. Proxenos Kopf war hochrot als er Neaira entdeckte, und Ariston, der sensiblere der beiden Brüder, zitterte am ganzen Leib.
Hätte er Proxenos nicht festgehalten, hätte dieser sich auf Neaira gestürzt. „Sie behaupten, ich sei der Sohn deiner Hure!“, schrie er seinen Vater an, während Aristons anklagende Blicke auf Neaira ruhten. Stephanos versuchte, seine Söhne zu beruhigen. „Apollodoros will weder euch noch Neaira schaden. Sein Hass richtet sich gegen mich. Er hat nur einen Grund gesucht, mich vor Gericht zu ziehen.“
„Das ist doch vollkommen egal, bei Zeus“, ereiferte sich Proxenos. „Durch sie ist unsere Ehre in Gefahr. Wir sind ins Gerede gekommen. Sogar meine Sklaven reden hinter meinem Rücken. Meine Gattin hat mir gedroht, zu ihrer Familie zurückzukehren. Sie hat mir gedroht ! Das hätte sie vorher niemals gewagt. Verstoße sie endlich, damit das Gerede aufhört. Wenn du sie fortschickst, zeigst du damit dein Ehrgefühl gegenüber deiner rechtmäßigen Familie!“
Neairas Lippen zitterten, doch sie brachte kein Wort heraus, da sie wusste, dass ihr Schicksal allein von Stephanos Entscheidung abhing. Er schrie Proxenos an.
„Auch wenn ich keine Ehe mit Neaira führe, so ist sie mir im Herzen doch meine Gattin und meine Pflicht! Ich schütze jedes meiner Familienmitglieder, euch ebenso wie Neaira und Phano. Und jetzt geht, und kommt nicht wieder, ehe ihr euch zu entschuldigen gedenkt.“
„Bei ihr ?“, spie Proxenos aus und schüttelte den Kopf.
„Niemals! Ich entschuldige mich nicht bei deiner Hure!“
„Dann seid ihr nicht mehr in meinem Haus willkommen! Mögen die Götter euch vergeben, dass ihr die Ehre eures Vaters beleidigt.“ Stephanos Stimme war ruhig aber bestimmt. Er wies mit einem Fingerzeig zur Tür.
„Sie sind deine Söhne“, wagte Neaira sich einzumischen, welche die Ungeheuerlichkeit von Stephanos Entschluss kaum zu fassen vermochte. Zwar war sie selbst nicht bekümmert Proxenos und Ariston nicht mehr sehen zu müssen und hätte ihnen freudig tanzend den Fußtritt verpasst, der sie über den Rand des Tartaros stürzte. Doch für Stephanos bedeutete es, dass er seine Familie auseinanderriss – für sie ! Die Familie war das Wertvollste und Heiligste für einen Mann, gerade für Stephanos. Aber er hatte seine Entscheidung getroffen. „Geht, und kommt nicht wieder!“
Proxenos wandte sich auf dem Absatz seiner Sandale um und verließ das Andron. Ariston hingegen konnte sich nicht lösen. Ungläubig starrte er seinen Vater an. „Du ... du verstößt uns … für deine Hetäre?“ Das Entsetzen in seinen Augen verwandelte sich in Schicksalsergebenheit. „Wer wird die Opfer an deinem Grab darbringen, wenn du den Styx überquert hast? Wer wird deinen Namen weiterführen und sich deiner erinnern?“ Als Stephanos ihm nicht antwortete, wandte Ariston sich ebenfalls zum Gehen.
Bevor er das Haus verließ, sah er seinem Vater noch einmal in die Augen. „Wir werden es
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