Der Gesang des Satyrn
verprügeln, hieb sie auf Hylas Rücken ein. Neaira hatte noch nie gesehen, dass Idras einen der Sklaven geschlagen hatte. „Lass ihn, Idras. Er hat nichts getan!“ Doch Idras beachtete sie nicht - sie schlug weiter, während Hylas sich krümmte, aber nicht wagte sich gegen die Schläge zu wehren. Neaira konnte nicht mehr mit ansehen, wie die Schwarze ihn verprügelte. Sie griff nach dem Stock in Idras Hand, was zur Folge hatte, dass auch sie ein paar gezielte Schläge auf die Arme abbekam. Während Neaira über ihre schmerzenden Arme rieb, trieb die schwarze Sklavin Hylas vor sich her wie eine Ziege. „Hylas“, rief Neaira verzweifelt. Doch er wagte es nicht, sich nach ihr umzusehen. Spätsommertrauben, die von der Sonne zu lange geküsst wurden, schmecken bitter , kam Neaira eine Schrift über Weinanbau in den Sinn, die sie unter Hylas aufmerksamen Augen mit Mühe hatte entziffern können. Sie ahnte, dass die warmen Sommernachmittage mit Hylas vorüber waren.
4. Kapitel
Mannbar
Die Ohrfeige der Harpyie traf Neaira hart im Gesicht. Sie zuckte nicht zurück, obwohl sie meinte, dass die Male von Nikaretes Hand für immer auf ihrer Wange brennen müssten.
„So ist es wohl wahr, das Mädchen ist mannbar.“
Nikaretes Züge waren wie Stein.
„Sie blutet noch nicht, Herrin, das hätte ich bemerkt.
Ich lasse die Sklavinnen ihre Laken durchsehen.“ Das war Idras gewesen, die ihre dicken Arme vor der Brust verschränkt hatte.
Neaira trat von einem Bein auf das andere, während sie daran dachte, dass sie gerade noch die Wärme eines Spätsommertages gespürt hatte. Wie konnte es auf einmal so kalt werden, wie konnte alles Schöne in nur einem einzigen Augenblick zerstört werden?
„Was macht es schon, dass sie nicht blutet? Sie hat sich in die Arme eines Sklaven geworfen, also kann sie sich auch in die Arme anderer Männer legen.“ Erbarmungslos trafen die Worte der Harpyie Neairas Verstand.
„Hat er dich gehabt?“, forderte Nikarete zu wissen.
Neaira starrte auf die beringten Finger der Harpyie und auf ihren rot geschminkten Mund. Verstohlen sah sie hinüber zum Beistelltisch neben dem Stuhl, auf dem ein kleiner Dolch lag, mit dem Nikarete Wollfäden durchtrennte. Wie wäre es wohl, mit diesem Dolch Nikaretes Lebensfaden zu durchtrennen, sie einfach auszulöschen - ebenso wie Nikarete diesen glücklichen Tag einfach ausgelöscht hatte! Mit Gewalt zwang Neaira sich zur Besinnung zu kommen, damit Nikarete und die Schwarze ihre Gedanken nicht errieten. „Er hat mich nicht angerührt“, gab sie stattdessen zu.
„Ich hoffe für dich, dass du mich nicht anlügst, denn ich würde erfahren, wenn er es doch getan hat. Dann lasse ich dich auf den Hof bringen und mehr Männer über deinen Körper rutschen, als du zu zählen vermagst.“ Sie war misstrauisch, die alte Harpyie. „Ich habe dir Freiheit gewährt und war großzügig – und das ist der Dank!“
Idras kam und packte Neaira am Arm.
„Heute Abend wird sie den Herren vorgestellt“, bestimmte Nikarete. „Also sorge dafür, dass sie hübsch ist.“
Die Schwarze nickte, und Neaira ließ sich von ihr fortzerren, hinaus aus dem Andron. Ihre Knochen schienen schlaffe Binsenstängel zu sein. Ohne aufzubegehren, ließ sie sich von Idras in ihr kleines Zimmer schleifen, wo Neaira sich auf ihr Bett setzte und die Wand anstarrte.
„Hör zu, was ich dir sage.“ Idras gab ihr eine Ohrfeige - die zweite an diesem Tag. „Der heutige Abend wird nicht schwer für dich werden, denn die Herrin wird dich erst spät holen lassen, wenn nur noch einige wenige Gäste im Haus sind. Es werden Gäste sein, deren Geldbeutel so schwer ist, dass es ihnen danach verlangt ihn zu erleichtern, ebenso wie den Beutel zwischen ihren Beinen.“ Ungeduldig kramte Idras in Neairas Truhen und fand, was sie suchte; einen weißen Chiton und einen Silbergürtel. „Sei nicht aufreizend oder schlagfertig. Sei scheu, halte dich zurück und überlasse alles andere den Männern.“
Neaira sehnte sich nach Hylas und seiner Umarmung.
Heute Nacht sollte sie den Satyrn zum Tanz gebracht werden!
Idras brachte Neaira ins Badehaus, wo sie sich am Louterion waschen und danach den weißen Chiton mit dem Silbergürtel anziehen musste.
„Sieh zu, dass du nicht zuviel duftendes Öl benutzt und auch keine Schminke. Die Männer mögen den natürlichen Duft und die ungekünstelte Schönheit junger Mädchen.“
Idras schickte ihr eine der Haussklavinnen, die Neaira half ihr Haar zu richten und einen
Weitere Kostenlose Bücher