Der Gesang des Satyrn
durchsichtigen weißen Schleier über ihren Kopf und halb vor das Gesicht zu legen. Dann musste sie allein in ihrem Zimmer warten und sah durch den Spalt über ihrer Tür, wie die Sonne wanderte, ihre Strahlen von Gelb zu Orange und schließlich zu Rot wechselten und schließlich ganz verschwanden. Die Sklaven gingen im Haus umher und entzündeten die Lampen und Feuerbecken. Neaira vernahm die Schritte der ankommenden Gäste vor ihrer Tür und stellte sich vor, wie Satyrn Nikaretes Andron betraten, ihre Pferdeschwänze auf die gepolsterten Klinen legten und dann die Mädchen auf ihren Schoß zogen. Der Lärm des Festes und das immer lauter werdende Lachen aus dem Andron ließen Neaira Vorstellungen entwickeln, die ihr das Schaudern ihrer Kindheit zurückbrachten.
Tanzten sie dort, sangen sie, waren sie nackt? Sie wartete, betete und zitterte, während die Stunden dahinkrochen.
Schritte vor ihrer Tür ließen Neaira am späten Abend zusammenzucken. Es war soweit – Nikarete kam, um sie anzubieten wie ein Stück Fleisch.
Die Harpyie sprach nicht, als sie Neaira zunickte, und führte sie stattdessen die Flure entlang, immer dem Lärm entgegen.
Es gab kein knisterndes Feuer, um das sie tanzten, und sie hatten auch keine Hörner. Sie lagen auf Klinen, nur mit einem Hüfttuch bekleidet, gefüllte Weinschalen in den Händen haltend. Doch das Andron hatte sich auf unheimliche Weise in den Wald verwandelt, der Neairas Kinderträume begleitet hatte. Wo waren die Sonnenstrahlen, die sie und Hylas beschienen hatten, wenn sie auf dem Mosaik gesessen hatten, wo war all das Licht hin? Das Andron hatte sich in einen Tummelplatz für Dionysos und seine Anbeter verwandelt. Vor den Klinen standen kleine Speisetische, auf denen Schalen, Weinamphoren und Leckereien lagen, Reste eines Festes, das nichts mit Herzensfreude zu tun hatte. Einige der Amphoren und Weinkelche lagen umgestoßen auf dem Boden wie Opfer für den Weingott, und die Platten mit Trauben und Früchten hatten sich bereits geleert. Es gab kein welkes Laub, das an Neairas Füßen raschelte, dafür zerdrückte Blüten überall auf dem Boden um die im Halbkreis angeordneten Klinen. Es roch nach Schweiß und welken Blumen. Fünf Männer waren noch da. Sie ruhten mit weinschwangerem Blick auf den Klinen und prosteten sich lautstark zu als Nikarete ihnen Neaira vorführte.
„Ich hoffe unser langes Warten hat sich gelohnt. Du hast uns eine Überraschung der besonderen Art versprochen. Wir haben getrunken, geredet und Dionysos geehrt. Enttäusche uns nicht“, lärmte einer, dessen Bart und Haar bereits von grauen Strähnen durchzogen war, woraufhin die anderen in lautes Gelächter verfielen.
„Habe ich euch denn jemals enttäuscht, ihr edlen Bürger und Herren?“ Nikarete tat beleidigt, denn sie wusste, dass es ihr Spiel war, das hier gespielt wurde - das Spiel, auf das sie sich verstand. „Dies ist mein bestgehütetes Geheimnis, die liebste meiner Töchter!“
„Noch eine Tochter, Nikarete? Du hast in deiner Jugend wohl fleißig die Beine gespreizt.“
Neaira horchte auf. Woher kannte sie diese Stimme?
Warum war sie ihr so vertraut wie ein besonders nachhaltiger Traum? Sie kannte die Antwort, ehe sie das Gesicht des Mannes sah. Er war schön und hatte durchdringende Augen. Er war es! Er, der ihr vor Jahresumläufen das rote Band in die Hand gedrückt hatte ...
der Satyr, der sie in ihren Träumen heimgesucht und aufgefordert hatte, mit ihr zu tanzen. Fürchtest du dich? Hast du Angst, kleine Neaira? Sie fürchtete sich, und sie hatte 109
Angst! Würde er sie heute an sich zerren und das einfordern, wofür sie damals zu jung gewesen war?
„Edler Phrynion, gerade du müsstest verstehen, was Leidenschaft ist.“
Er, der Satyr, hatte einen Namen, und dieser brannte sich ebenso in Neairas Kopf wie alles andere von ihm – seine Stimme, seine Blicke, sein schmales Lächeln. Er war Phrynion, der Satyr. Würde er sie in dieser Nacht zum Tanzen auffordern? Nikarete schob sie weiter vor, zu einem Feuerbecken hin, dessen Flammenschein Neaira umschmeichelte. „Seht meiner schönen Tochter in die Augen und sagt mir, ob sie etwas Besonderes ist.“
„Sie ist doch noch ein Kind ohne Reize.“ Der, der es gesagt hatte, der Älteste von ihnen, wusste, wovon er sprach, denn er hätte ihr Vater oder sogar Großvater sein können. Nikarete zog ihr den Schleier mit fließender Handbewegung vom Gesicht. „Lass die Herren dein wunderschönes Gesicht sehen.“
Mein Gesicht ist
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