Der Gesang des Satyrn
dir diesen Schmerz sogar noch mehr als ich ihn Idras gegönnt habe. Ich gönne ihn dir so sehr, Nikarete, so viel mehr als den Tartaros, der noch viel zu friedlich für dich wäre“.
Nikarete, die eben noch aufgelöst gewirkt hatte, verschluckte die Tränen und verzog ihren Mund zu einem gemeinen Lächeln. Ihr Augenblick der Schwäche erstarb bei Neairas Worten als hätte es ihn nie gegeben. „Es ist wahr, Kind. Du bist anders als die anderen Mädchen - so viel Wut, so viel Trauer und dieser große Hass. Ich habe dich unterschätzt. Bildung habe ich dir ermöglicht und Freiheiten gewährt, weil ich glaubte, du hättest dich mit deinem Schicksal abgefunden. Aber du hast das alles nur getan, um mich zu täuschen.“ Ihre Hände verkrampften sich, als sie weitersprach. „Hör mir gut zu, meine kleine Mänade! Ich werde dich niemals verkaufen. Du wirst mir den Verlust von Idras bis an dein Lebensende abzahlen.“
Nikaretes Mund umspielte ein bitterer Zug. „Sie hat mich begleitet, seit ich ein Kind war und wie du einer Herrin gedient habe - bis ich mich schließlich freikaufen konnte.
Ich habe Idras gekauft und sie mitgenommen. Sie war alles, was ich je hatte - meine Mutter, meine Amme, meine Freundin! Du wirst niemals frei sein – ich schwöre es dir bei allen Göttern des Olymp!“
Sie bedachte Neaira mit einem letzten kalten Blick, dann wandte sie sich um und ging. Neaira blieb zurück – mit einem Herzen voller unbändiger Wut und mit der Gewissheit, dass sie sich in Nikarete eine Feindin geschaffen hatte, die sie ebenso sehr hasste wie Neaira sie.
7. Kapitel
Ein verliebter Herr
Idras wurde aus ihrem Zimmer getragen. Ihre Haut war aschfahl, und ihre schweren Arme, die so gerne und hart zugeschlagen hatten, baumelten nutzlos zu beiden Seiten.
Die Sklaven ächzten unter der Last des schweren Körpers.
Nikarete zeigte nicht noch einmal offen ihren Kummer.
Stattdessen bezahlte sie eine kostspielige Bestattung für Idras und erwies sich der toten Slavin gegenüber großzügiger als Neaira es ihr zugetraut hatte. Trotzdem empfand Neaira keinerlei Reue, sondern vielmehr Genugtuung für Nikaretes Schmerz und Idras Schicksal.
Nikarete bestrafte Neaira nicht und sprach auch nicht darüber, wie Idras gestorben war.
Doch für Metaneiras Begräbnis bezahlte Nikarete keinen einzigen Obolus, sondern verkaufte sie für drei Obolen an einen jungen Arzt, der zum Zwecke seiner Studien menschliche Körper öffnete, um etwas über deren Beschaffenheit zu erfahren. Dies, so wusste Neaira, war die schlimmste Strafe, die Nikarete über sie hatte verhängen können. Sie musste mit ansehen wie der leblose Körper der Freundin, in ein schmutziges Tuch gewickelt, von zwei Sklaven auf einen Eselskarren geworfen und fortgebracht wurde. So musste Metaneira noch ein letztes Mal nach ihrem Tod ihren Körper im Dienste ihrer Herrin verkaufen.
Etwa einen Mondumlauf nach Metaneiras Tod stand Lysias eines Abends im Andron und fragte nach Metaneira.
Nikarete quetschte sich eine Träne aus dem Auge und erzählte Lysias, dass Metaneira an einem Fieber gestorben sei. Neaira erschrak als Lysias die Hände vor das Gesicht legte, zu zittern begann, und von zwei Sklaven gestützt werden musste, die ihn aus dem Andron brachten. Der freundliche Lysias weinte wie ein Kind. Neaira, die bisher noch nie einen Mann hatte weinen sehen, rührte die offen gezeigte Trauer. Sie wäre ihm gerne hinterhergelaufen, um ihm die Wahrheit über Metaneiras Tod zu erzählen. Doch sie achtete den Wunsch der toten Freundin und schwieg.
Eine ganze Nacht weinte Lysias um Metaneira, und als er am nächsten Tag Nikaretes Haus verließ und über die Schwelle der roten Tür ins Sonnenlicht trat, schien er in nur einer Nacht um Jahre gealtert. Ein letztes Mal sah er sich um, betrachtete die im Wind flatternden Tücher der Händler, und ging gestützt von seinem Sklaven davon.
„Dummer alter Mann“, spottete Nikarete, während sie ihm nachsah. „Verliebt sich in ein Sklavenmädchen.“
Nach diesem Tag kam Lysias nie wieder in Nikaretes Haus.
Mit Idras Tod hatte Nikarete jedoch einen großen Teil ihrer Tatkraft eingebüßt. Sie wurde träge und dick, die Sorgfalt ihrer Schminke und Kleidung ließ nach. Die Harpyie war nur noch ein Abglanz jener Frau, die sie gewesen war – sogar ihr funkelnder Schmuck schien an Glanz verloren zu haben. Sie unterwies weiterhin mit verkniffenem Mund die Mädchen und gierte nach dem Geld der Herren, die in ihr Haus kamen. Jedoch schien
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