Der Gesang von Liebe und Hass
bisher geachtet, daß er allein sein wollte, niemanden sehen oder empfangen konnte.
Doch nun trat Maria Teresa ein, und sie lehnte sich an die geschlossene Tür und schaute ihn über die Weite des Raumes hinweg an, mit ihren immer noch großen, immer noch schönen, dunklen Augen. Ihre Stirn war glatt und die Lider nicht gerötet, aber er wußte, sie hatte geweint. Er sah auch, wie mager ihre Hände geworden waren, die schlaff an ihren Seiten herabhingen, und daß ihr schwarzes Kleid zu weit geworden war. Sie trug nur das goldene Kreuz mit den Rubinen, das ein Vorfahr von einem Kreuzzug mitgebracht hatte, und ihren Ehering, der aufblitzte, als sie die linke Hand hob und das Kreuz umschloß.
»Wie lange willst du hier noch sitzen?« fragte sie. »Wie lange willst du dein Haus vernachlässigen, deine Familie? Wie lange noch willst du mich ausschließen aus deiner Trauer?«
Sebastian schaute auf seine Hände nieder, er wußte keine Antwort.
»Du tust nichts«, sagte sie mit tonloser und doch entschlossener Stimme, wie er sie nur wenige Male in all den Jahren ihrer Ehe hatte zu ihm sprechen hören, und wenn sie so zu ihm sprach, war letztlich sie es, die eine Entscheidung traf.
»Was erwartest du von mir?« fragte er.
»Daß du aufstehst, ein Bad nimmst, dich rasierst, daß du ein kräftiges Essen zu dir nimmst. Daß du dich auf den Weg machst, um deine Tochter zu finden.«
»Wie kannst du so mit mir reden?«
»Ich rede so mit dir, weil es auch meine Tochter ist. Ich habe deine Kinder geboren. Ich liebe sie wie du. Auch wenn ich selbst Maria Christina in das Kloster gebracht habe. Aber habe ich damit nicht dir nur die Entscheidung abgenommen? Und erleichtert?«
Er schloß die Augen.
»Sieh mich an«, sagte sie. »Wenn du mich im Stich läßt, werde ich dich verlassen. Ja, ich werde dieses Haus verlassen, und niemand wird mich je zurückkehren sehen. Entscheide dich.«
»Was verlangst du von mir?« fragte er.
»Daß du gehst und nicht ohne unsere Tochter zurückkommst.«
Sie trat an den Schreibtisch heran, ihre Hand hielt noch das Kreuz aus dem Heiligen Land umklammert.
»Viele Boten sind mit Nachrichten in den letzten Tagen in die Stadt gekommen. Aber nur einer ist wichtig für uns. Ein junger Bursche. Er hat gesehen, wie das Kloster von den Internacionales besetzt wurde und daß sie den Novizinnen und den Nonnen kein Leid angetan haben. Aber er hat gesehen, was dann die Marokkaner Francos taten. Und er hat auch gesehen, daß eine der Nonnen dem Kloster entkam. Mit einem Internacional.«
Sebastian sprang auf. »Was sagst du da?«
»Du hast es gehört, ich brauche es nicht zu wiederholen. Der Bote kam vor einer Stunde.«
»Warum hast du mich da nicht gerufen?«
»Wärest du gekommen?«
»Natürlich.«
»Ich dachte, deine eigene Trauer wäre dir wichtiger.«
»Wo ist der Bote jetzt?«
»Im Patio. Ich habe ihm eine Mahlzeit gegeben und Geld. Er ist auf der Flucht. Vor wem, das weiß ich nicht. Aber er ist sicher, daß er sah, wie eine Novizin dem brennenden Kloster entkam.« Ihre Linke ließ das Kreuz los und stützte sich wie die Rechte auf die Kante des Schreibtisches.
Maria Teresa schwankte ein wenig, und Sebastian sah, wie erschöpft sie war; bleich und ausgelaugt von den langen Gebeten und dem sinnlosen Warten auf Tröstung.
Er nahm sie in seine Arme, und sie senkte ihre Stirn auf seine Schulter.
»Du hältst mich fest«, murmelte sie verwundert, »du hältst mich wirklich in deinen Armen?«
Er senkte seinen Kopf, daß ihre Wangen sich berührten.
»Welch eine lange Nacht ist das, in der wir leben«, sagte sie, »welch eine lange, düstere Nacht.«
»Es gibt Lichter«, sagte er. »Du hast mir Licht gebracht. Der Padre war nicht sicher, aber nun der Bote – ich spüre es, unsere Tochter lebt.«
Sebastian machte sich aus Maria Teresas Armen frei. »Ich will mit dem Boten sprechen.«
Doch sie fanden ihn nicht mehr im Patio, die Hunde am Portal kläfften noch hinter ihm her.
»Ich konnte ihn nicht halten«, sagte der Pförtner. »Die Angst hat den Jungen zu einem Riesen gemacht.«
So blieb ihnen wieder nur das Warten, aber nun mit der wirklichen Hoffnung, daß es noch ein Licht am Ende des langen Weges gab.
Von all dem wußten die drei nichts, die sich auf den Weg in den Süden gemacht hatten.
Am nächsten Morgen schon, nach der kopflosen Flucht Maria Christinas und ihrer Rückkehr zur Cantina, brachen sie auf, versehen mit den Segenswünschen der Doña Verona und ihres Sohnes Manuelo,
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