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Der Gesang von Liebe und Hass

Titel: Der Gesang von Liebe und Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordes Alexandra + Horbach Michael
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Wahrheit.
    Wie sie aus dem Kloster entkommen war, wie sie Unterschlupf gefunden hatten, wie sie auf dem Weg in ihre Heimatstadt Córdoba war, zu ihren Eltern.
    »Die Namen«, verlangte der Offizier, »die Namen!«
    Sie wollte sich nicht erinnern, und so konnte sie sich nicht erinnern. Sie wiederholte ihren eigenen Namen unzählige Male.
    Sie sagte: »Ich war eine Novizin. Ich war eine Novizin.«
    Und schließlich verlor selbst dieser traurig und müde aussehende Offizier seine Beherrschung und schrie sie an: »Das kann jeder sagen. Wenn man euch spanischen Weibern glauben soll, dann wart ihr alle Jungfrauen und Nonnen obendrein.« Und er schickte sie in die Zelle zurück.
    Die Frauen machten ihr den Platz frei, den sie am Tage zuvor und in der Nacht innegehabt hatte.
    Und dort saß sie, die Arme um ihre Knie gelegt, in sich hineinlauschend und Träume nachlebend, die sie auf die Finca zurücktrugen, zur Zeit der Weinernte.
    Sie sah sich wieder mit nackten, rotgesprenkelten Füßen im hölzernen Bottich mit den roten Trauben, bis ihr Vater sie heraushob und sagte: ›Jetzt ist es genug für heute, mi corazón‹, und ihre Füße und Beine waschen ließ, während er nicht weit davon entfernt stand, ein dünnes, schwarzes Zigarillo zwischen den Lippen und ein leuchtendes Lächeln in den Augen, denn sie wußte, er war stolz auf sie, weil sie stark war und kräftig wie die kräftigsten der Mägde und nicht aufgab.
    Sie flüsterte sich selbst zu: »Ich gebe nicht auf. Ich gebe nicht auf. Und du, Brenski, darfst auch nicht aufgeben.«
    Sie erinnerte sich des Grußes, den einige Freunde ihres Vaters, gelehrte Männer, einander sagten, wenn sie zu Ostern ins Haus geladen waren, bevor sie wieder auseinandergingen: ›Nächstes Jahr in Jerusalem.‹
    Und sie flüsterte sich zu: »Nächstes Jahr in Córdoba. Höre, Brenski, nächstes Jahr in Córdoba.«
    Daß sie hohes Fieber hatte, wußte sie nicht. Und daß sie beinahe das Kind verlor, auch nicht.
    Die Frauen kühlten ihre Stirn mit dem wenigen frischen Wasser, das sie erhielten.
    Das Mädchen, das schon viele Männer gekannt hatte, wiegte sie wie eine kleine Schwester und erzählte ihr Märchen, bis sie darüber einschlief.
    Sie war sehr krank und dem Tod sehr nahe, aber das erfuhr sie nicht. Und auch nichts von dem glücklichen Lächeln, das sich um ihre Augen und ihren Mund schmiegte, wenn sie flüsterte: »Nächstes Jahr in Córdoba, Brenski.«
    Sie erwachte eines Morgens und war fieberfrei. Sie konnte ihre Umwelt wieder klar erkennen, die nackten Steinmauern, die armseligen Frauen, ob sie nun Huren, Diebinnen oder ganz einfach Eingekerkerte waren, die man verdächtigt hatte, mit den Nacionales zu sympathisieren.
    Wie lange würde man sie alle eingesperrt halten? Wie lange würde man sie wieder und wieder zu Verhören rufen? Wie lange war sie eigentlich schon hier?
    Sie fragte das Mädchen neben sich, das ihr vom Schlaf wirres, schwarzes Haar mit den Fingern kämmte und zu Zöpfen flocht.
    »Wie lange bin ich schon hier?«
    »Ich kann nicht zählen«, sagte das Mädchen und rief einer alten Frau ein paar Meter weiter, die sich gerade aufrichtete, zu: »He, Alte, wie lange ist die Nonne schon hier?«
    »Vier Wochen«, sagte die alte Frau und kam zwischen den anderen, noch schlafenden Frauen zu ihnen herübergekrochen. Sie hockte sich neben Maria Christina hin. »Aber jetzt sind deine Augen wieder klar.« Sie nickte und lächelte, und die Haut ihrer Wangen fältelte sich wie Kreppapier.
    »Hier, nimm das.« Sie zog etwas aus der Tasche ihres weiten, schwarzen Rockes und hielt es Maria Christina hin. »Kau es, es wird deinen Magen kräftigen, denn du hast in den letzten Tagen nichts bei dir behalten als Wasser.«
    Maria Christina nahm das Kräutersträußlein. Es schmeckte bitter, aber nicht unangenehm.
    »Es ist Eisenkraut«, sagte die alte Frau. »Kau es so lange, bis der Speichel es weich gemacht hat, dann schlucke es hinunter.«
    Vor der Tür der Zelle war Bewegung zu hören, das Rattern des Karrens, auf dem ihnen morgens zwei Eimer Wasser und die Kanten trockenen Brotes gebracht wurden.
    Als die Zellentür aufgeschlossen wurde, waren mit einemmal alle neunzehn Frauen auf den Beinen, die Gesichter gierig der Tür zugereckt, als erwarteten sie dahinter geradewegs die Entlassung und die Freiheit.
    Aber sie schauten nur in einen düsteren Flur, und zwei Männer, flankiert von zwei Wachtposten, hoben die beiden Emailleeimer mit dem Wasser von dem Karren und zählten zwanzig

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