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Der Gesang von Liebe und Hass

Titel: Der Gesang von Liebe und Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordes Alexandra + Horbach Michael
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Doch der Spanier weigerte sich und erklärte sogar, Brenski habe sich im Anfang des Krieges um die revolutionäre Sache verdient gemacht, das sei zu berücksichtigen.
    Die sechs Männer in der Zelle warteten auf den Morgen, wie sie seit drei Monaten auf den Morgen warteten. In der Dämmerung waren sie hellwach, lauschten auf jedes Geräusch, das ungewöhnlich sein könnte in der Routine des Gefängnisses.
    Aber wenn es neun Uhr wurde, dann wußten sie, daß die Exekution nicht stattfinden würde. Dann sanken sie müde zurück, schlossen die Augen und schliefen, bis sie durch die Essensträger geweckt wurden und Brot und Zichorienkaffee herunterwürgten, um danach wieder zu schlafen.
    So war es an jedem Tag und in jeder Nacht, nur in dieser nicht. Denn am Abend hatte einer der Posten ihnen zugeflüstert: ›Morgen ist es soweit, Muchachos.‹ Sie hörten, wie Marschtritte im Hof aufhallten, hörten, daß eine neue Einheit der Militärpolizei eingetroffen war. Und sie wußten, das bedeutete das Ende.
    »Endlich«, sagte El Corazón nur.
    Und seitdem saßen sie, und El Corazón redete und redete, mit dieser leisen, bald heiseren Stimme, einfach, um sich über die Stunden hinwegzureden, die ihnen noch blieben, und Brenski hörte ihm schweigend zu oder auch nicht, denn manchmal schweiften seine Gedanken ab, und er war wieder zu Hause, im Märkischen, damals, als er noch so jung war und die Welt noch so schön. Seine Gedanken wanderten zu Ajax, seinem Hund, und wie sie in einem Winter zu einer Lichtung gekommen waren, die Bäume rings um sie, die stets nach Harz duftenden Kiefern mit ihren breit ausladenden Armen, waren schwer vom Schnee, weiß wie ein glücklicher Traum.
    Auf der Lichtung standen fünf Rehe, ein Bock, zwei Ricken und zwei junge Rehe, die mit ihren schmalen Hufen den Schnee wegscharrten, um an die darunter immer noch üppige Grasdecke zu gelangen. Der Winter war überraschend früh gekommen in diesem Jahr. Von einem Tag zum anderen, vom tiefen Blau des Spätherbstes mit einer goldgefaßten Sonne, die lange im Himmel schwebte, als sei sie dort wie ein Traum von van Gogh für immer aufgehängt – und dann die Nacht, in der Paul wach wurde und wußte, es schneit. Er lief zum Fenster, schob die Gardine weg, hauchte die Eisblumen an, die sich auf der Scheibe gebildet hatten, und blickte durch die handtellergroße freie Stelle hinaus. Es schneite in Flockenschwärmen, die sich wiegend und webend auf die Erde legten, so als zögere der Winter fast, seinen Mantel über die schlafende, noch spätherbstliche Erde zu ziehen.
    Die Rehe blickten auf, alle zur gleichen Zeit, stoben davon in einem so gleichen Rhythmus, daß Pauls Herz in der Kehle geschlagen hatte, überwältigt von der Schönheit des Anblicks der seidigbraunen Tiere, die dort zwischen den grünen, nun vom Schnee weißen Kiefern verschwanden, als hätten sie nie auf der Lichtung gestanden.
    Aber da hörte Paul etwas wie einen Schrei, und er sah, daß eins der kleinen Rehe ausgerutscht und hingeschlagen war. Ajax war bei dem Reh, ehe Paul ihn zurückpfeifen konnte. Er machte einen gewaltigen Satz, landete neben dem Reh, das jetzt, ergeben auf dem Rücken liegend, alle viere in die Luft streckte, die Kehle entblößt in der Gebärde der Aufgabe.
    Und da geschah etwas kaum Glaubliches: Ajax beschnüffelte das Reh, lief zweimal um das Tier herum, schnüffelte noch einmal, und dann begann er, den kalten, kleinen Bauch zu lecken, als wollte er so das Kitz beruhigen.
    In diesem Augenblick erschien so furchtlos, daß Paul mit weit aufgerissenen Augen stehenblieb, der Leitbock. Er brach aus dem Wald heraus, senkte seinen Kopf und stob mit vorstehenden Hörnern auf Ajax zu. Ajax stand neben dem kleinen Reh und knurrte nur, nicht drohend, sondern nur wie jeder Hund, der sich gestört fühlt.
    Der Bock blieb stehen. Die beiden Tiere maßen sich mit einem langen Blick, der aus den Urzeiten der Erde zu kommen schien, als noch alle Geschöpfe in paradiesischer Eintracht zusammen lebten, wie es die Mythen aller Völker und aller Religionen wissen wollen, dann leckte Ajax noch einmal dem kleinen Reh über den Bauch, gab ihm einen Stupser mit seiner Nase.
    Das Kleine rappelte sich auf, schüttelte sich und sprang zu dem Bock hin.
    Dieser drehte sich um, und wie Schemen, die man blitzschnell aus einem fahrenden Zug sieht, waren sie im Wald verschwunden.
    »Weißt du«, sagte El Corazón, »irgendwie bin ich froh, daß es nun für mich zu Ende ist. Was sollte ich auch

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