Der Gesang von Liebe und Hass
wo ein Stück der Straße nach Guevara zu sehen war. Er schaute durch das Scherenfernrohr des Obersten, und er fühlte sich nicht in der Lage, jetzt ein Verhör mit dem schwer Verwundeten zu machen.
Ein Aristokrat.
Ja, das war er wohl, mit einer langen Liste von Ahnen, die Amerika entdeckt, die halbe Welt erobert und drei gloriose Jahrhunderte lang den Lauf der Weltgeschichte bestimmt hatten.
Und Brenski, Schreinergeselle, Sozi aus Leidenschaft und weil er nicht anders kann, wird sich diesen Aristokraten vornehmen.
Aber nicht heute abend.
Nein, heute abend nicht.
Er drehte sich um, übergab Ed das Scherenfernrohr und machte sich auf, die Nonne mit dem ovalen Gesicht zu suchen; aus dem ganz Spanien, sein ganzes Leben, Anfang und Ende zu ihm gesprochen hatten.
6.
Schwester Teresa hatte noch nie bei einer Operation assistiert. Sie hatte die Wunden ihrer Brüder verbunden, wenn sie draußen auf der Finca ihres Vaters mit den jungen Stieren ihren Mut und ihre Kraft maßen, sie hatte einmal Juans rechtes Knie geschient, als er bei einer Treibjagd vom Pferd gefallen war, und dafür hatte Dr. Samuel, der Hausarzt, sie gelobt.
Das Gewölbe, in dem die drei Karbidlampen brannten, füllte sich mit dem Geruch von Blut und Schweiß und vor allem mit dem Geruch von Angst.
Ja, zum erstenmal roch sie die Angst. Es war ein seltsam säuerlicher Geruch, ganz deutlich von dem Messinggeruch des Blutes und der tierhaften Ausdünstung des Schweißes zu unterscheiden.
Sie stand stumm neben dem Operationstisch, ließ die verlangten Instrumente in die ausgestreckte Hand des Arztes fallen, die mit einem gelben Gummihandschuh bedeckt war.
Klammer, Tupfer, Klammer.
Was sich an schmerzstillenden oder betäubenden Mitteln im Kloster befunden hatte, mitgebracht von den Soldaten der Nacionales, war nach zwei Stunden aufgebraucht.
Der Arzt steckte den Verwundeten ein kurzes Stück Holz zwischen die Zähne, und bald war es von den kleinen oder größeren Kerben ihrer Bisse genarbt.
Keiner schrie.
Und ihrer aller Augen sahen sie an und baten, hilf mir, hilf mir. Einer von ihnen flüsterte, bevor er wieder hinausgetragen wurde: »Madonna, bitte für mich!«
Zwei der Internacionales überwachten das Herein- und Hinaustragen der Verwundeten.
Schwester Amalia trug die Eimer mit den blutigen Tupfern hinaus, schnitt neue Bandagen und überwachte das Sterilisieren der Instrumente.
Plötzlich erlosch die Spiritusflamme unter dem Sterilisierbecken, und der Arzt fluchte laut, bis der Verwundete, dem er soeben einen tiefen Riß im Oberschenkel vernähte, bat: »Fluchen Sie nicht, Doktor, versündigen Sie sich nicht, wir sind an einem heiligen Ort.«
Schließlich trugen sie den letzten der Verwundeten herein, es war einer von den Republikanern, seine Arme hingen schlaff herab, und sein Gesicht war zur Seite gewandt, Maria Christina zu, und der Atem versagte ihr, ihr Herz setzte aus, denn es war das Gesicht ihres Bruders.
»Juan«, flüsterte sie, da öffneten sich die Augen und sahen sie an. Sie waren ganz hell, licht und blau, und er war wieder ein Fremder.
Unter seiner Brust war die Tunika von Blut verkrustet, und als der Arzt sie öffnete, pulste frischrotes Blut hervor, sprang in einer kleinen Fontäne hoch.
Es war eine tiefe Wunde, von einem Splitter gerissen. Der Arzt arbeitete noch schneller und konzentrierter als zuvor, aber er konnte das Blut nicht stillen. Es lief an den Seiten der Wunde herab, über das längst nicht mehr weiße Laken des Tisches, tropfte auf den Boden.
Der Verwundete spie das Stück Holz aus, auf dem er seine Schmerzensschreie ersticken sollte, und er griff nach Marias Hand. Ganz klar sagte er: »Bete für mich, meine Schwester. Ich habe einer guten Sache gedient. Ich habe doch nur das Beste gewollt, die Freiheit.«
»Die Freiheit ist nahe«, flüsterte Maria Christina, obwohl die Madre Superior es ihr verboten hatte, mit den Verwundeten zu sprechen.
Der Arzt brachte die Blutung nicht zum Stillstand, und sie sahen, wie das Leben aus dem jungen Körper floß, wie die Haut blasser wurde, wie die Augen sich noch mühten, klar zu schauen, die Lippen, klare Worte zu sprechen. Dann schloß er die Augen, sein Gesicht neigte sich zur Seite und kam auf Maria Christinas Hand zu ruhen.
Noch war seine Wange warm, noch einmal hoben sich die Lider, versuchten noch einmal diese Welt zu sehen – dann lag er ganz still.
Der eine der beiden Internacionales, die ihn hinaustrugen, fluchte leise vor sich hin, der andere zeigte
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