Der Gesang von Liebe und Hass
wußte, daß sich das Gros der marokkanischen Einheit nicht mehr weit vom Kloster entfernt befinden konnte.
Er machte seinen Rundgang zu den Posten, ging dann nach unten, zum Keller, wo die Gefangenen hockten. Sie hatten Wasser und Brot bekommen, und die meisten von ihnen schliefen auf dem Boden aus Granitquadern, ihre Uniformjacken übers Gesicht gezogen. Glarendes Licht aus zwei Karbidlampen verbannte alle Schatten aus dem Raum. Wilkowski, der Pole mit dem pockenzernarbten Gesicht, hielt Wache, zusammen mit Jimmy O'Connor, dem Iren. Wilkowski trug seinen Krieg der Privatrache gegen die Nacionales aus, denn seine Eltern waren – er war damals ein dreijähriges Kind – von den gegen die Rote Armee im Grenzgebiet zwischen Polen und Rußland kämpfenden Weißgardisten ermordet worden.
»Alles in Ordnung?« fragte Brenski.
Wilkowski streichelte seine Maschinenpistole und lächelte nur.
O'Connor gähnte. »Eine Mütze voll Schlaf täte gut.«
»Ihr werdet in zwei Stunden abgelöst.«
Die beiden nickten. Sie hatten während des kurzen Wortaustauschs kein Auge von den Gefangenen gelassen. Neben Wilkowski lag die aus fünf Handgranaten zusammengebündelte Ladung. Die Sicherungen waren schon entfernt, und Wilkowski brauchte nur den Zündring zu ziehen, um sie innerhalb von sechs Sekunden explodieren zu lassen – Zeit genug für die Posten, aus dem Keller rauszukommen, nicht Zeit genug für die Gefangenen, einen jähen Ausbruch zu wagen.
Brenski verließ den Keller, ging durch den Klostergarten, über dem jetzt der Mond hing, voll und blendend hell ein wachsames Auge aus dem All.
Brenski trat in das Lazarettgewölbe. Der Arzt war allein. Er saß auf einem Schemel und rauchte. Seine Augen waren halb geschlossen, und sein Kopf war in den Nacken gebeugt, die Kehle bloß und hilflos.
»Kann ich jetzt mit dem Colonel sprechen?« fragte Brenski.
Der Arzt zuckte mit den Achseln.
»Nun?«
»Er steht noch unter der Wirkung des Morphiums.«
Brenski trat auf den Arzt zu, packte ihn beim Kragen seines weißen, blutbraun befleckten Kittels und zog ihn hoch, wie man ein Bündel Kleider hochzieht.
»Ich hatte Ihnen befohlen, ihm keine betäubenden Mittel zu geben.«
»Morphium ist kein betäubendes Mittel. Es ist ein schmerzstillendes Mittel.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Brenski stieß ihn auf den Schemel zurück.
»Sie haben mir nichts zu befehlen. Es kann sein, daß Sie mich als Ihren Gefangenen betrachten, aber auch dann kann ich Ihnen nur meinen Namen mitteilen. Eine Erkennungsmarke und eine Wehrdienstnummer habe ich nicht.«
»Wo ist er?«
»Nebenan, in der Sakristei.«
»Sie kommen mit!«
Der Arzt blieb sitzen. Brenski packte ihn kurz oberhalb des Bizeps am linken Arm, wo die Nervenstränge zusammenlaufen. Der Arzt gab keinen Laut von sich, er saugte nur die Luft zwischen den nikotinverfärbten Zähnen ein. Aus seinen Wangen wich die Farbe. Er stand auf. Brenski ließ ihn los. Ohne ein weiteres Wort ging der Arzt zur Tür.
In der Sakristei brannten Kerzen. Der Oberst lag unter einem Laken auf einer langen Kommode, die wohl Geräte für die Messe im Kirchenraum nebenan barg. Es roch nach Wachs, Weihrauch und Meßwein, und der Geruch brachte die Erinnerung zurück an die kleine Kirche in Röblin, mit dem rundlichen Pfarrer, der lieber Witze machte als hehre Worte sprach; wo Brenski die heilige Kommunion empfangen hatte, auch wenn sein Vater ein Sozi war. Das verträgt sich schon miteinander, mein Junge, hatte Gustav Brenski zu ihm gesagt, denn schon Christus – das war ja wohl der erste Sozialist – hat zu seinen Jüngern und zu den Burschen, die ihn hereinlegen wollten, gesagt, gebt Gott was Gottes und dem Kaiser was des Kaisers ist. Brenski beugte sich über den Colonel. Sein Kopf war mit weißen Bandagen umwunden, Turban einer schmerzhaften Pilgerfahrt in den Krieg.
»Die Marokkaner vom Zweiten Kolonialregiment Francos sind im Anmarsch«, sagte Brenski und zog das Leinen vom Gesicht des Obersten. Der sah Brenski mit halb abwesenden Augen an.
»Ich will von Ihnen wissen, was hinter den Marokkanern kommt. Ist das Angriffsziel jetzt schon die Hauptstadt, Madrid?«
»Colonel Ramón Arraga y Catalania … Erkennungsmarke einhunderttausendsechsunddreißig.«
»Das weiß ich schon. Und Sie haben das ›de‹ vor Ihrem Namen vergessen. Wollen Sie Ihren Adel verbergen, den sich Ihre Vorfahren beim Kampf gegen die Mauren so tüchtig erworben haben?«
»Wir haben – gegen den Satan –
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