Der gestohlene Abend
fühlte mich hässlich. Ich hatte auf einmal Skrupel, diese Zeitungen zu durchforsten. Janines Reaktion, ihr erbitterter Protest gegen mein Vorhaben verunsicherten mich. Was ging mich das alles an?
Am Ende geriet ich in eine Passage, die an Paris erinnerte. Ein Cafe hatte noch geöffnet. Ich setzte mich in eine Ecke, bestellte eine Karaffe Wein, saß einfach da, trank lustlos und fühlte mich elend. Die ganze Zeit führte ich in Gedanken ein endloses Gespräch mit Janine, stellte ihr immer wieder die gleichen Fragen, erklärte mich, rechtfertigte mich. Ihre Geschichte mit den Liebesbriefen ging mir im Kopf herum. Und natürlich das einundsiebzigste Sonett, das ich immer wieder las und so gut ich eben konnte übersetzte.
Nicht länger traure du um meinen Tod, Als du die Glocke schlagen hörst mit dunklem Tone Der Welt verkündend, dass ich ihrer Not Entflohen bin und bei den Würmern wohne.
Gedenke nicht beim Lesen dieser Zeilen Der Hand, die schrieb, denn sieh, ich liebe dich So sehr, dass dein Erinnern ein Vergessen wäre, Wenn schmerzvoll die Erinnerung an mich.
Ach, liest du diese Verse da ich längst
Vermodert und zu Staub zerfallen bin
Dann will ich, dass du nicht mal meinen Namen denkst
So wie den Leib ich gab, gib deine Liebe hin.
Damit kein Spötter sich an deinem Kummer weide
Und dich mit mir verhöhnt, wenn aus der Welt ich scheide.
Kapitel 55
Die Salle des periodiques lag im zweiten Untergeschoss. Vierzehn große Tische standen in zwei Reihen nebeneinander. Die meisten waren leer. Nur auf fünf Tischen lagen großformatige Zeitungsbände. Ich war ganz allein. Ohne Probleme fand ich den Tisch mit der Nummer 9 und darauf die bestellten Exemplare des Soir, die wohl schon seit gestern Nachmittag dort auf mich gewartet hatten. Ich schob die beiden schweren, in beigefarbenen Karton gebundenen Bände in die Mitte des Tisches, drehte sie so herum, dass ich den Rücken sehen konnte, und nahm mir den lahrgang 1941 vor.
Die Bindung knarrte, als ich den Einband aufklappte. Auch das Papier war brüchig. Es riss leicht ein, auch wenn ich es noch so vorsichtig anfasste. Ich blickte zur Buchausgabe. Aber dort war gar niemand. Diese Bestände waren eigentlich viel zu alt für eine Konsultation im Lesesaal. Sie gehörten längst auf Mikrofiche oder anderweitig faksimiliert. Ich blätterte behutsam Seite um Seite um und versuchte, mir einen Eindruck von dem Blatt zu verschaffen. Nachrichten über den Kriegsverlauf machten etwa die Hälfte der Berichterstattung aus. 9. April: Deutsche Truppen brechen serbischen und griechischen Widerstand. 15 . April: Deutsche Truppen stehen in Ägypten. 21. April: Serbien kapituliert. Hoffnung auf Rücktritt Churchills. Gestern große Feierlichkeiten in Berlin anlässlich des 52ten Geburtstags des Führers.
Was den Umfang der Zeitung betraf, so hatte ich mich glücklicherweise völlig verschätzt. Eine Ausgabe, so war unter dem Titelkupfer zu lesen, bestand aus acht Seiten. Merkwürdigerweise waren in dieser Sammlung jedoch immer nur vier Seiten jeder Ausgabe vorhanden. Erscheint in Brüssel um 13 und 17 Uhr, stand da außerdem. Weitere Ausgaben: Flandern (Antwerpen, Löwen), Lüttich-Limburg, Namur-Luxembourg, Hainaut-Nivelles-Philippeville. Ich nahm erst einmal hin, dass ich nur einen Teil des Jahrgangs vor mir hatte, blätterte wieder zurück und sah mir die vermischten Meldungen an. 6. April: Die schöne Filmschauspielerin Herta Feiler wird am Montag in Begleitung ihres Mannes, des berühmten Schauspielers Heinz Rühmann, in Brüssel eintreffen. 15. Mai: Diabetiker erhalten wegen strengerer Rationierung besondere Lebensmittelkarten. 4. Juni: Wilhelm II, ehemaliger deutscher Kaiser, in Doorn gestorben. Dazwischen schoben sich immer wieder großformatige Kästen mit Kriegsnachrichten. 11. Juli: Heutige Bilanz sowjetischer Verluste: 400000 Gefangene, 7615 Panzer, 4432 Geschütze, 6233 Flugzeuge. Franzosen in Syrien erobern Rakka zurück. 2$ Jahre Bolschewismus: 32 Millionen ermordet oder verhungert. Es folgte eine Aufschlüsselung der Opfer nach Stand und Beruf.
Die politische Ausrichtung der Zeitung war deutlich. Am 14. Juli 1941, dem französischen Nationalfeiertag, erörterte ein Dr. Montandon, Professor für Ethnologie an der Hochschule für Anthropologie zu Paris, auf der Titelseite in einem Leitartikel Das Konzept des Ariertums für Frankreich. Herr Montandon wies nach, dass das Ariertum nicht auf die germanische Rasse beschränkt sei, sondern durchaus auch lateinische
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