Der gestohlene Abend
ungläubig auf den Autorennamen geheftet. Jacques De Vander.
Man hat ihn sorgfältig im Unwissen gelassen über die beträchtlichen Wiederaufbauleistungen, die in diesem Land im Gang sind. Hastig las ich weiter, blieb an Satzteilen hängen, und wollte doch sofort weiterlesen: ... ist die deutsche Agrarpolitik die revolutionärste Politik der Nationalsozialisten ... unverzichtbar für ein objektives Verständnis dieser gewaltigen europäischen Unternehmung... zeigt sich klar, wie viel würdevoller, gerechter, menschlicher das siegreiche Deutschland sich verhält als etwa das Frankreich von 1918, das außerdem einen sehr viel weniger klaren Sieg davongetragen hatte... die Wunder der deutschen Chemieindustrie...
Ein Namensvetter, dachte ich. Oder doch derselbe Mann? Ich überflog den Artikel erneut, bemüht, eine Erklärung zu finden. Er fasst ja nur zusammen, was in flämischen Broschüren stand, dachte ich. Allmählich fand ich mehr und mehr Artikel von De Vander. Er hatte vor allem Rezensionen und Literaturkritiken geschrieben und dies zum Anlass genommen, seine politischen und geschichtsphilosophischen Ansichten zu verbreiten. Ich wehrte mich bei jedem Satz dagegen, dass es derselbe Autor sein sollte, dessen Theorien ich seit Monaten mit wachsender Begeisterung studiert hatte. Aber da war dieser Stil, der ruhige, leichtfüßige und dennoch wie über alle Zweifel erhabene Tonfall, der so typisch für ihn war. Er schrieb, als spreche er von außerhalb der Welt, aus einer vollendeten Zukunft heraus, in der er schon angekommen war und zu der seine Leser noch eine Weile unterwegs sein würden. Es waren keine Essays oder Überlegungen, sondern letzte Wahrheiten: Der Krieg wird die beiden Dinge, die schon immer zusammengehörten, die Seele Hitlers und die Seele Deutschlands, nur enger miteinander verschweißen, um eine einzige und einzigartige Macht daraus zu formen. Das ist ein wichtiges Phänomen, denn es bedeutet, dass Hitler und Deutschland zusammengedacht werden müssen und die Zukunft Europas ohne das deutsche Genie gar nicht vorstellbar ist. Es handelt sich nicht nur um eine Reihe von Reformen, sondern um die endgültige Emanzipation eines ganzen Volkes, das berufen ist, Hegemonie in Europa auszuüben.
Immer wieder griff ich zu einem neuen Blatt und schrieb Passagen ab. Welcher neue Mensch wird hieraus entstehen? Es gibt ja schon seit längerer Zeit keinen festen, klar umrissenen Menschentypus mehr. Ein sogenannter Individualismus bestimmte, dass ein jeder für sich entscheiden könne, welche Art von Mensch er werden wolle und dass ein jeder die daraus entstehenden Gewissenskonflikte mit sich selbst auszumachen habe. Es ist keine gering zu achtende Neuerung totalitärer Regime, dieser wirren Anarchie einen Rahmen aus klaren Pflichten und Verbindlichkeiten gesetzt zu haben, innerhalb dessen ein jeder seine Fähigkeiten einzubringen hat. Und mag der neue Mensch noch ein wenig roh und elementar aussehen, so liegt dies daran, dass er in der relativ starren und engen Form des Krieges gegossen wurde...
Dann stieß ich auf einen kleinen Papierstreifen. Er war zwischen zwei Seiten an einer Stelle eingeklemmt stecken geblieben, an der sich De Vander in einem langen Artikel darüber amüsierte, dass die französische Literatur in einer Zeit des Siegeszuges des Kollektivs an der Idee des einzelnen Menschen festhielt. Der Staat der Zukunft kann auf egoistische Einzelinteressen keine Rücksicht nehmen, stand dort, wo der Streifen lag. Er war nicht viel größer als ein U-Bahn-Ticket. CEGES stand darauf. Darunter waren handschriftlich Davids Nachname sowie eine Signatur und ein Datum eingetragen: 17. August 1987. Ich ging wieder zur Buchausgabe.
»Ich habe das hier in einer der alten Zeitungen gefunden«, sagte ich.
Der Bibliothekar blickte auf den Streifen und zuckte mit den Schultern.
»Wissen Sie, was CEGES bedeutet?«
»Ja«, antwortete er. »Das ist ein Kriegsarchiv. Warten Sie.«
Er schlug in einem dunkelblau gebundenen Buch nach, das mit anderen am äußeren Rand des Tresens stand.
»Wollen Sie die Adresse?«
»Ja. Bitte. Ist das weit von hier?«.
»Zu Fuß etwa zwanzig Minuten. Mit dem Auto geht es schneller. Aber ich würde in der Gegend kein Auto auf der Straße stehen lassen. Es ist in der Nähe des Südbahnhofs.«
»Wissen Sie, was für ein Archiv das ist?«
Er stellte die Siglenkonkordanz wieder an ihren Platz zurück.
»Ein Archiv für Kriegsopfer«, antwortete er.
Kapitel 56
Wie war David auf diese
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